Eine Frau wird 1952 von Polizisten in Westberlin festgenommen und abgeführt. (Symbolbild)
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Podcast | Diagnose: Unangepasst Unaufgearbeitete Geschichte – "Tripperburgen" in der BRD

16. Mai 2024, 05:00 Uhr

In den geschlossenen venerologischen Stationen der DDR – auch "Tripperburgen" genannt – wurden Frauen und Mädchen unter medizinischen Vorwänden zwangseingewiesen, um sie zu disziplinieren. Die Betroffenen waren teilweise wochenlang demütigenden Untersuchungen und sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Neuere wissenschaftliche Forschungen belegen, dass es solche geschlossenen Stationen auch in der Bundesrepublik gegeben hat.

Tausende Frauen und Mädchen wurden in der DDR wegen angeblicher Geschlechtskrankheiten in sogenannte geschlossene venerologische Stationen zwangseingewiesen. Dabei handelte es sich um Kliniken für Geschlechtskrankheiten, die umgangssprachlich auch abwertend als "Tripperburgen" bezeichnet wurden. Tatsächlich hatte die Einweisung in den seltensten Fällen medizinische Gründe, sondern diente als Disziplinierungsmaßnahme für einen Lebensstil, der nicht in das sozialistische Weltbild passte. Im Podcast "Diagnose: Unangepasst – Der Albtraum Tripperburg" kommen betroffene Frauen zu Wort, die über ihre Erfahrungen in diesen geschlossenen Stationen berichten.

Nicht nur ein DDR-Phänomen

Lange Zeit war unklar, ob geschlossene venerologische Stationen nur in der DDR existierten. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass es diese Einrichtungen auch in den westlichen Besatzungszonen und später in der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat. Gesichert ist dies für die Städte München, Frankfurt am Main, Ludwigshafen, Bremen und Hamburg.

Auch in der Bundesrepublik wurden hauptsächlich Frauen unter dem Vorwand der Gesundheitsfürsorge in geschlossene venerologische Stationen zwangseingewiesen. Im Gegensatz zu Männern galten sie als "Hauptinfektionsquellen" für Geschlechtskrankheiten und mussten deshalb willkürliche Kontrollen – erst durch die Militärpolizei, später durch die Behörden der Bundesrepublik – über sich ergehen lassen. Verdächtigt wurden insbesondere Frauen, die als "HwG-Personen" oder Sexarbeitende stigmatisiert wurden.

Während die geschlossenen Stationen in der DDR bis in die 1980er Jahre existierten, ist dies für die Bundesrepublik im Einzelnen noch nicht gesichert. In der Forschung geht man jedoch davon aus, dass mit den einsetzenden gesellschaftlichen Liberalisierungsprozessen wie der Neuen Frauenbewegung ab den späten 1960er Jahren auch ein Umdenken im Umgang mit vermeintlich geschlechtskranken Frauen einsetzte. Grundsätzlich ist das Kapitel der geschlossenen venerologischen Stationen in der Bundesrepublik jedoch schlechter erforscht als in der DDR.

Frauen als "Infektionsquellen" diffamiert

Historikerin Dr. Francesca Weil forscht zu geschlossenen venerologischen Stationen in Ost- und Westdeutschland. Sie engagiert sich ehrenamtlich im Leipziger Initiativkreis Riebeckstraße 63 – ein Verein, der sich für Aufklärung und die Betroffenen einsetzt.
Historikerin Dr. Francesca Weil Bildrechte: Francesca Weil

Eine der wenigen Wissenschaftlerinnen, die über geschlossene venerologische Stationen in Westdeutschland geforscht und publiziert hat, ist die Historikerin Dr. Francesca Weil vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden. Die Ergebnisse ihrer Recherchen hat sie in einem Artikel des institutseigenen Blogs zusammengefasst. Daraus geht hervor, dass man auch hier radikal gegen Frauen vorging, um die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten zu verhindern.

In der amerikanischen und britischen Besatzungszone drohte Frauen die Zwangseinweisung in die geschlossenen Stationen vor allem dann, wenn sie mutmaßlich oder nachweislich Kontakt zu alliierten Soldaten hatten. In diesem Fall wurden sie als "Infektionsquellen" verdächtigt – und damit als Gefahr für die Soldaten eingestuft.

Wie entscheidend dieses Kriterium war, zeigt das Beispiel Bayern in der ehemals amerikanischen Besatzungszone: Litten Frauen hier an Geschlechtskrankheiten, durften sie die Stationen im Normalfall nach kurzem Aufenthalt wieder verlassen. Wurden sie jedoch verdächtigt, Kontakt zu amerikanischen Soldaten zu haben, dauerte der Zwangsaufenthalt drei Wochen.

In der damaligen britischen Besatzungszone in Nordrhein-Westfalen mussten Frauen, die als "Infektionsquelle" für Soldaten diffamiert wurden, zunächst zwangsweise Beratungsstellen aufsuchen, in denen sie auf Geschlechtskrankheiten getestet wurden. War der Test positiv, wurden sie auch hier in eine venerologische Station zwangseingewiesen. Ob es geschlossene Stationen auch in der französischen Besatzungszone gegeben hat, konnte Wissenschaftlerin Francesca Weil durch ihre Recherchen bisher nicht feststellen.

Terror durch gezielte Razzien

Eine Besonderheit hinsichtlich der Zwangseinweisungen in Westdeutschland stellen die systematischen öffentlichen Razzien dar, denen die Frauen ausgesetzt waren. Diese Razzien wurden während der Besatzungszeit von der Militärpolizei und deutschen Ordnungskräften häufig an großen, belebten Plätzen durchgeführt – mit dem Ziel, dass ihnen möglichst viele Frauen "ins Netz" gehen sollten.

Historikerin Francesca Weil zitiert dazu in ihrem Artikel Franz Redeker, den Leiter der Gesundheitsabteilung im Bundesinnenministerium ab 1949, der in einem Aufsatz über seine Erinnerungen an diese Zeit schreibt. Er berichtet von einem undatierten Fall während der Besatzungszeit, bei dem 200 Frauen von der Militärpolizei eingekesselt und anschließend zwangsweise auf Geschlechtskrankheiten untersucht wurden. Nur eine Person wurde dabei positiv getestet.

Diese Razzien wurden auch nach der Gründung der Bundesrepublik fortgesetzt, allerdings von den Gesundheitsbehörden nun bewusst als "Streifen" verharmlost. Auch hier wurden willkürlich ganze Häuserblocks oder Straßenzüge kontrolliert. Das Hauptaugenmerk der Ordnungskräfte richtete sich nun aber – ähnlich wie in der DDR – auf Frauen, die in irgendeiner Art und Weise "auffielen". Verdächtigt wurden insbesondere sogenannte "HwG-Frauen". Das Kürzel stand für "häufig wechselnden Geschlechtsverkehr". Mit diesem stigmatisierenden Begriff wurden dementsprechend Frauen bezeichnet, von denen man annahm, dass sie häufig wechselnde Sexualpartner hatten.

Das waren Frauen, die aufgefallen sind – die geschminkt waren, die ihr Leben genossen haben, die tanzen gegangen sind. Also zutiefst intime Dinge, die einen Staat nichts anzugehen haben.

Dr. Francesca Weil | Historikerin

Nicht nur "HwG-Frauen", sondern auch vermeintliche Sexarbeitende gerieten bei den Razzien ins Visier der Behörden. Das geht aus einer medizinischen Dissertation aus dem Jahr 1950 hervor. Wie in der DDR verschwammen jedoch die Grenzen zwischen beiden Begriffen, da "HwG-Personen" häufig mit Sexarbeit in Verbindung gebracht wurden.

Ungleiche Behandlung von Frauen und Männern

In den geschlossenen venerologischen Stationen der Bundesrepublik wurden – wie in der DDR auch – hauptsächlich Frauen zwangseingewiesen. Welches Frauenbild hinter dieser Ungleichbehandlung steht, zeigt sich in der genannten Dissertation aus dem Jahr 1950: Darin wird beschrieben, dass Männer verantwortungsvoller im Umgang mit Geschlechtskrankheiten seien, da sie sich häufiger freiwillig behandeln lassen würden. Als "Hauptinfektionsquelle" diffamiert die Autorin dieser Dissertation – eine Medizinerin – Sexarbeitende und "HwG-Frauen", da diese grundsätzlich skrupelloser handeln würden. Gesellschaftliche Gegenstimmen zu dieser Vorverurteilung von Frauen gab es kaum.

Grafik: Mann und Frau, ausgeglichen auf einer Waage mit Video
Die volle Gleichberechtigung der Frau ist, trotz der Meilensteine in der DDR-Verfassung oder der Gleichberechtigung am Arbeitsplatz von 1980, immer noch nicht abgeschlossen. Bildrechte: Colourbox.de

Gesetzesänderungen und liberale Einflüsse

Die juristische Grundlage für die Maßnahmen in geschlossenen venerologischen Stationen bildete in den vier Besatzungszonen nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst ein Gesetz, das noch aus der Weimarer Republik stammte.

In der sowjetischen Besatzungszone wurde dieses in den Jahren von 1947 bis 1961 erst durch einen Befehl der sowjetischen Militäradministration (SMAD) ersetzt. Zwei Jahre nach der Gründung der DDR trat dann mit der "Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten" ein neues Gesetz in Kraft, das bis zur Wiedervereinigung bestand.

In der Bundesrepublik Deutschland wurde das Gesetz aus der Weimarer Republik erst im Juli 1953 durch das neue "Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten" ersetzt. Dieses gab den Gesundheitsämtern weitreichende Rechte. Sie erhielten die Befugnis, die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person einzuschränken. Voraussetzung hierfür war, dass so die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten verhindert wurde. Außerdem wurden die Gesetzte für Prostitution verschärft: Sexarbeitende konnten mit einer Haftstrafe von bis zu drei Jahren verurteilt werden, wenn sie sich einer Zwangsuntersuchung auf Geschlechtskrankheiten verweigerten.

Ab den späten 1960er Jahren ist die Bundesrepublik von zivilgesellschaftlichen Bewegungen wie den sogenannten Heimkampagnen – einer Reformbewegung für Kinderheime – oder der Neuen Frauenbewegung geprägt. Es entsteht eine feministische Gegenkultur, die sich für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen einsetzt. In der Forschung nimmt man an, dass diese gesellschaftlichen Liberalisierungsprozesse Auswirkungen auf die venerologischen Stationen hatten, da sie auch zu einer Veränderung der geschlechtsspezifischen Krankenfürsorge führten. Was dies im Detail bedeutete, ist momentan jedoch noch unklar.

Eine Forschungslücke, die geschlossen werden muss

Die wissenschaftliche Aufarbeitung der geschlossenen venerologischen Stationen in der Bundesrepublik Deutschland steht noch am Anfang. So ist noch unklar, welche Maßnahmen die Frauen nach einer Zwangseinlieferung über sich ergehen lassen mussten, wie viele Frauen schätzungsweise betroffen waren oder wie lange die Stationen im Einzelnen überhaupt existierten. Aus Sicht von Historikerin Francesca Weil herrscht hinsichtlich dieser Zeit großer Forschungsbedarf:

Es muss einfach grundsätzlich aufgearbeitet werden. […] Denn es ist wichtig zu verstehen: Es geht hier nicht nur um die politischen Rahmenbedingungen, in denen das passiert ist. Es geht um Frauenrechte, es geht um sexualisierte Gewalt gegen Frauen und es geht um patriarchale Strukturen.

Dr. Francesca Weil | Historikerin

Stigmatisierung von Frauen – ein gesamtdeutsches Thema

Wie in der DDR genügte auch in der Bundesrepublik der bloße Verdacht auf eine Geschlechtskrankheit für eine Zwangseinweisung in eine geschlossene venerologische Station – unabhängig davon, ob eine medizinische Indikation vorlag oder nicht. Auch hier wurden Frauen aus einem bevormundenden, männderdominierten Blickwinkel gesehen und entsprechend behandelt. Ein Unterschied zur DDR besteht darin, dass die Zwangseinweisungen in der Bundesrepublik keinen politisch-ideologischen Hintergrund hatten. Dort wurden sie gezielt eingesetzt, um Frauen, die als "unangepasst" galten, im Sinne der sozialistischen Ideologie zu disziplinieren.

Auch wenn noch nicht alle Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den geschlossenen venerologischen Stationen in der Bundesrepublik und der DDR erforscht sind, so wird doch eines deutlich: In beiden Teilen Deutschlands lagen der Stigmatisierung von Frauen sexistische Motive zugrunde, die vor allem ein Ziel hatten – Frauen zu kontrollieren, die ein selbstbestimmtes Leben führen wollten.

Dieses Thema im Programm: ARD Audio | Podcast "Diagnose: Unangepasst" | 30. April 2024 | 06:00 Uhr