Säcke mit  verborgenen Informationen über die DDR
In den Außenstellen des ehemaligen BStU lagern nach wie vor Tausende Säcke voller zerstörter Akten. Bildrechte: IMAGO / epd

Rekonstruktion der Stasi-Akten Das gescheiterte "Stasi-Puzzle": Rekonstruktion der Akten landet vor Gericht

15. Januar 2023, 05:00 Uhr

Fast 20 Jahre lang löste ein Projekt in regelmäßigen Abständen Medienhypes aus: Mittels eines "ePuzzlers" sollte ein Fraunhofer-Institut die Rekonstruktion der Stasi-Akten immens beschleunigen. Heute scheint es einer der größten Archiv-Flops der Nachwendezeit zu sein: Von 400 geplanten Säcken voller Schnipsel wurden nur 23 rekonstruiert. Der Bund sieht das Projekt offenbar insgeheim als gescheitert an, die Schluss-Zahlungen an das Fraunhofer-Institut bleiben bislang aus. Dieses klagt jetzt gegen seinen Auftraggeber, die Bundesrepublik Deutschland.

Robotertechnik, um das Geheimnis der Stasi-Akten zu lüften

Die Idee selbst war bestechend. Mit Hilfe der EDV sollten in kurzer Zeit die Geheimnisse der DDR-Geheimpolizei rekonstruiert werden, die die Stasi 1989 kurz vor Toresschluss hatte verschwinden lassen wollen. Weil damals die Schredder heißliefen, zerriss man die Akten per Hand. Nun schien die Rekonstruktion plötzlich einfach. Ein renommiertes Forschungsinstitut, das Berliner Fraunhofer-Institut für computergesteuerte Produktionsanlagen und Robotertechnik (IPK), hatte ein Computerprogramm entwickelt, mit dem auf diese Weise zerrissene Papierschnipsel erkannt und zusammengesetzt werden konnten: einen ePuzzler. Oder Im Volksmund schlicht "Stasi-Puzzle" oder auch liebevoll Schnipselmaschine genannt.

Auch Abgeordnete des deutschen Bundestages hofften, auf diese Weise noch diejenigen Stasi-Kollaborateure bei der Überprüfung des öffentlichen Dienstes zu erwischen, die die Offiziere des einstigen DDR-Überwachungsministers Mielke vor Entdeckung hatten schützen wollen.

Umsetzung in der Praxis: schwierig

Doch die Sache zog sich - von Anfang an. Allein die große Zahl von Säcken mit "Schnipseln", im Fachjargon "vorvernichtetes Schriftgut", ließ hohe Kosten befürchten. Im Jahr 2007 wurde immerhin der Startschuss für ein Pilotprojekt gegeben. Erst einmal 400 der bis zu 16.000 Säcke sollten gepuzzelt werden. Doch sieben Jahre später waren nur 23 fertig, aber immerhin 702.584 Schnipsel zu Din-A4-Seiten zusammengesetzt.

In der Pilot-Praxis zeigten sich Schwierigkeiten: Die Stasi-Vernichter hatten Akten gleich stapelweise zerrissen. Mehrere Schnipsel wiesen "eine Reihe mit genau den gleichen Konturmerkmalen auf", weiß der damalige Projektleiter, Dr. Bertram Nickolay. Ursprünglich war er davon ausgegangen, dass diese Risskanten wie beim Fingerabdruck charakteristisch seien und die Gegenstücke so vom ePuzzler elektronisch zusammenzuführen wären.

Fraunhofer gegen Bund: Erwartungen prallen aufeinander

Was in Vorversuchen einwandfrei geklappt hatte, erwies sich im Massenverfahren als problematisch. Die Fraunhofer-Mitarbeiter hatten nur eine "Chance, wenn sich Merkmale unterschieden". So mussten weitere Charakteristika herangezogen werden, wie Handschrift, Maschinenschrift, Stempelabdruck, et cetera. An dieser Herausforderung scheiterten jedoch herkömmliche Scanner, sei es, dass sie keine genügende Bild-Auflösung hatten, sei es, dass sie die hohe Zahl an Scans nicht bewältigten.

Säcke mit  verborgenen Informationen über die DDR
Säcke mit zerrissenen Stasi-Akten Bildrechte: IMAGO / epd

Für den Projektleiter Nickolay war das zwar eine nicht erfreuliche, aber fruchtbringende Erkenntnis. Aus seiner Warte war es geradezu der Sinn des Pilotprojektes, optimale technologische Lösungen zu finden. Der öffentliche Auftraggeber dagegen sah das Ziel, die 400 Säcke zusammenzusetzen, als nicht erreicht an. Seither streitet man sich über die Restzahlung für den Auftrag. Die Innovateure des IPK mit den Beamten im Archiv und im öffentlichen Beschaffungswesen ringen miteinander. Und sie ringen bis heute. Demnächst wohl vor Gericht.

Der Bund war zuvor im Januar 2022 "schriftlich angemahnt" worden, offenbar ohne die gewünschte Reaktion. Nun klagt das IPK gegen den Auftraggeber. Zum derzeit "laufenden Verfahren" möchte sich Fraunhofer derzeit nicht öffentlich erklären.

Fast zehn Jahre Stagnation

Seit nunmehr rund acht Jahren geht es nicht weiter. Seit 2013/14 ist keine einzige Stasi-Akten-Seite mehr elektronisch gepuzzelt worden. Dabei hatte der Deutsche Bundestag weitere zwei Millionen Euro bereitgestellt, mit dem festen Willen, das Projekt fortzusetzen. Aber die Mittel wurden vom Bund bis heute nicht abgefordert. Um diesen Skandal zu kaschieren, gab der damalige Behördenleiter, Roland Jahn, die Weisung, wieder verstärkt per Hand zu puzzeln. Man habe im letzten Jahr 17.215 Blatt MfS-Unterlagen manuell zusammengesetzt, heißt es jetzt aus dem Archiv.

Eine Frau sortiert zerstörte Stasi-Akten
Eine Mitarbeiterin des BStU sortiert 2012 die Schnipsel zerstörter Stasi-Akten. Bildrechte: IMAGO / epd

Zur Verteidigung behauptete die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Ära Jahn immer wieder, die Anlage, der Scanner, funktioniere nicht. Was eine zeitlang in der Tat zutraf, ist aber schon lange kein Hinderungsgrund mehr. Das Fraunhofer-Institut IPK hat in der Zwischenzeit auf eigene Kosten einen Hochleistungsscanner entwickelt. Dieser liefert hochauflösende Bilder von beiden Seiten der Vorlage, mit denen der ePuzzler nunmehr gut umgehen kann. Nur noch mit wenigen Fehlermeldungen findet er die Passtücke und fügt sie virtuell am Bildschirm zusammen. Doch diese international durchaus beachtliche Entwicklung, die das Projekt vorwärts bringen würde, wurde vom Bund nie nachvollzogen.

Händisches Zusammensetzen könnte Jahrhunderte dauern

Bei diesem Hin und Her machen sich auch im Parlament offenbar resignative Züge breit. Katrin Budde, langjährige Vorsitzende des Kulturausschusses und in der Sache Engagierte, meint: "Mir persönlich ist es dabei egal, ob die Akten per Hand oder mittels eines Computers rekonstruiert werden." Sie verweist allerdings auf den unmissverständlichen gesetzlichen Auftrag, die Rekonstruktion fortzusetzen. Doch händisch oder maschinell ist angesichts der Menge keineswegs belanglos. Beim derzeitigen Tempo würde es Hunderte von Jahren dauern, bis die übrigen Säcke erschlossen sind.

Brisantes aus den rekonstruierten Akten

Dabei konnten in den 23 rekonstruierten Säcken zahlreiche interessante Aktenstücke identifiziert werden. Neu war beispielsweise die Akte von IM "Max". Der Jurist spitzelte jahrzehntelang in der Führungsetage des DDR-Justizministeriums. Spannungen zwischen den DDR-Justizverantwortlichen, die bisher kaum bekannt waren, werden durch die Berichte des Mannes deutlich, der zeitweilig persönlicher Ministerreferent war.

Das bisherige Bild des einst von Parteichef Erich Honecker 1972 geschassten Justizministers Kurt Wünsche zeigt sich nunmehr in einem anderen Licht. Der angeblich latent Widerständige erscheint in den neuen Akten als politischer Opportunist, dem seine Arroganz gegenüber der Parteibürokratie zum Verhängnis wurde.

Details zum gescheiterten Schachzug gegen die Umwelt-Bibliothek

Ein anderes Beispiel aus den zerstörten Akten sind die Hilfsdienste einer Literaturwissenschaftlerin an der Ostberliner Humboldt-Universität für die Stasi. Jahrzehntelang lieferte sie quasi-gutachterliche Stellungnahmen zum Kulturbereich. Eine diente der Kriminalisierung des DDR-Samisdat im Jahr 1987, als die Hersteller der oppositionellen Zeitschrift "Grenzfall" von der Stasi festgenommen werden sollten. Die Stasi-Aktion in der Ostberliner Umweltbibliothek, wo die Oppositionellen die Zeitung druckten, wurde zu einem der größten Misserfolge der Geheimpolizei. Auch schon an der Versenkung des Defa-Filmes "Spur der Steine" (Hauptrolle Manfred Krug) Mitte der 1960er-Jahre im Panzerschrank hatte die beflissene "Expertin" laut Akten mitgewirkt. Die IM-Akte war bis zum Zeitpunkt der elektronischen Wiedergeburt vollkommen unbekannt.

Umstrittener Wert der Akteninhalte

Doch die Meinungen zu den bisher gepuzzelten Akten gehen auseinander. So behauptete einer der beteiligten Historiker, zur Erforschung des MfS benötige er keine dieser Akten. Warum gerade eine Person mit einem derartig festen Vorurteil  jahrelang mit der Analyse der gepuzzelten Akten betraut wurde, ist eines der Rätsel in diesem schier unendlichen Spiel. Die öffentlichen Erwartungen an das Projekt waren dagegen hoch, wohl auch zu hoch. So hatte die damalige BStU-Chefin Marianne Birthler damit geworben, in den Säcken sei all das, was die Stasi am meisten habe verheimlichen wollen. Sie setzte damit das Pilotprojekt schließlich im Bund durch. Die Wirklichkeit der Säcke ist freilich eine andere. Sehr Interessantes liegt neben Stasiroutinen und Unwichtigem.

Erster Tag der offiziellen Einsichtnahme von Stasi-Akten. Hier sieht man Bürgerrechtler Rainer Eppelmann (Deutschland/CDU) am 2. Januar 1991 in der Gauck-Behörde in Berlin.
Akteneinsicht: Hätten bei einem Fokus des Vorhabens auf die Akten der Betroffenen noch mehr frühere DDR-Bürgerinnen und -Bürger Einsicht erhalten, wie hier der Bürgerrechtler Rainer Eppelmann 1991? Bildrechte: imago images / Detlev Konnerth

Ohnehin hatte die Stasi-Unterlagen-Behörde bei ihrer Vorauswahl der zu puzzlenden Akten einen verhängnisvollen Fehler gemacht: Es wurden nie gezielt die Akten von Stasi-Betroffenen zusammengesetzt. Wenn Dutzende, die jahrelang vergeblich auf "ihre" Akte warteten, vom ePuzzler bedient worden wären, hätte dies jedoch größeren öffentlichen Druck ausgelöst, um die Sache erfolgreich voranzutreiben.

Wiederbelebung derzeit unwahrscheinlich

Unverkennbar ist, dass die Front der Gegner des Projekts über die Jahre gewachsen ist. Manchmal werden Vorbehalte formuliert, die bei Technikern irrig wirken. So wird der hohe Personalaufwand in der Pilotphase kritisiert, der jedoch mit den absurd hohen technischen Anforderungen des Bundes zusammenhängt. Weil die elektronischen Aktenbilder, die im Computer entstehen, im Zweifelsfall vor Gericht Bestand haben müssen, forderten Juristen eine hundertprozentige Garantie für die Korrektheit des Akteninhaltes.

Rein technisch gesehen ist dies aber widersinnig. Die Gefahr von falsch gepuzzelten Dokumenten liegt dennoch bei Null, denn der ePuzzler errechnet die passgenaue Wahrscheinlichkeit ähnlich wie ein Fingerabdruckscanner. Jedes Stück des schließlich ausgedruckten Papiers wird zudem noch einmal von einem Facharchivar in die Hand genommen, der es ansieht, prüft, bewertet, zu Dokumenten und Akten zusammenfügt und in den Stasi-Archivbestand einordnet.

Säcke mit zerkleinerten Stasi-Akten im Archiv in Berlin
Die Bilanz nach acht Jahren des Pilot-Projektes ist ernüchternd: Lediglich 23 von 400 geplanten Säcken voller Aktenschnipsel konnten rekonstruiert werden. Bildrechte: IMAGO / epd

Der politische Wille scheint verflogen

Derartige Hemmnisse, Missverständnisse und Zögerlichkeiten haben bei manchem Beteiligten inzwischen den Verdacht aufkommen lassen, dass das Projekt politisch gar nicht (mehr) gewollt sei. Merkwürdige Nachfragen wirkten, als gäbe es Befürchtungen, Belastendes könne zutage gefördert werden, meint ein Verfahrensbeteiligter. Zu teuer, zu wenig inhaltlicher Ertrag, funktioniert nicht, scheint inzwischen die Totschlag-Formel der Gegner zu sein.

Hoffnung setzten manche in das Bundesarchiv, das die Stasi-Akten seit dem 17. Juni 2021 übernommen hat. Dort ist - auch im Koblenzer Präsidialbereich - die Kompetenz in Sachen Digitalisierung in der Tat deutlich größer als in der alten Stasi-Unterlagenbehörde. Doch nach einem flotten Anfang scheint der Elan wohl schon wieder erlahmt. "Der Abschluss eines Neuvertrages mit dem Fraunhofer IPK über ein Fortsetzungsprojekt zur vReko ist nicht möglich, solange der Altvertrag nicht beendet", sprich die finanziellen Querelen nicht geklärt sind, heißt es lapidar aus Koblenz. Und die Reaktion aus dem Amt der in der Bundesregierung zuständigen Beauftragten für Kultur und Medien? Gar keine.

Personalakten
Seit 2021 ist das Bundesarchiv in Koblenz für die Verwaltung und Rekonstruktion der Stasi-Akten zuständig. Bildrechte: MDR/Rainer Erices

Hat der ePuzzler Zukunft?

Die ewig wiederholte Begründung, warum es nicht weitergeht, warum die im Grundsatz bewilligten zwei Millionen Euro nicht für die Fortsetzung der Stasi-Puzzelei eingesetzt werden, zieht jedoch schon länger nicht mehr.

Das Know-how ist schon lange aus dem Fraunhofer-Institut herausgewandert. Wissenschaftliche Mitarbeiter, die nicht auf den Sankt Nimmerleinstag warten konnten, bis das Projekt fortgesetzt wird, haben sich längst mit ihrem Wissen selbstständig gemacht. In einem attraktiven Fabrikhinterhof in Berlin-Mitte baut die "Musterfabrik" die erforderlichen Hochleistungs-Scanner und bringt die ePuzzler nach den spezifischen Anforderungen ihrer Kunden zum Laufen. Auch andere technologische Varianten, siehe Künstliche Intelligenz, könnten Lösungen bringen. Die Fortsetzung des Projektes könnte also einfach auf dem Markt ausgeschrieben werden, unabhängig wie lange Bundesbeamte mit dem Fraunhofer-Institut noch - wenn sie bis dahin nicht gestorben sind - über die Bezahlung des Altprojektes streiten.

Über den Autor

Dr. Christian Booß ist Journalist und Historiker. Er studierte an der Freien Universität Berlin Geschichte und Germanistik und arbeitete danach als Rundfunk- und Fernsehjournalist, bis er 2001 als Pressesprecher, später Forschungskoodinator zur Stasi-Unterlagenbehörde wechselte. Heute an der Europa-Universität Viadrina. Er ist außerdem im Vorstand des Aufarbeitungsvereins Bürgerkomitee 15. Januar e.V. und Mitherausgeber des Aufarbeitungsforums im Netz: http://h-und-g.info/

Dr. Christian Booß
Journalist und Historiker Dr. Christian Booß Bildrechte: MDR