Das Altpapier am 30. November 2017 Protest ist keine Zensur
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Die ARD will mehr weibliche Moderatoren und weibliche Fernsehfilmprotagonisten zum Einsatz bringen. Ein Schweizer Blog greift Halluzinationen des deutschsprachigen Feuilletons auf. In Bremen reden manche Fußballjournalisten nicht mehr miteinander. Außerdem: Inwiefern muss sich die "progressive Medienkritik" angesichts der sogenannten Medienkritik in den sogenannten Alternativmedien von rechts "neu justieren"? Ein Altpapier von René Martens.
Volker Herres, der Programmdirektor des Ersten, hat mich gestern leicht schockiert, als er bei der Pressekonferenz zur Sitzung der ARD-Intendanten in Leipzig sagte, die ARD wolle im nächsten Bundestagswahlkampf (der uns ja sehr bald bevorstehen könnte) ein "eigenes" TV-Duell veranstalten. Das Ansinnen, über das unter anderem Spiegel Online berichtet, ist im Prinzip natürlich löblich, weil die bisherige Form mit vier Moderatoren nicht funktioniert hat. Ein journalistisches Desaster war das TV-Duell in diesem September aber nicht nur, weil zu viele Köche den Brei präsentierten. "Die profiliertesten Fernsehjournalisten haben verlernt, über Politik zu sprechen", schrieb Ex-Altpapier-Autor Matthias Dell für Zeit Online seinerzeit.
Der erwähnte Schock rührt von der Befürchtung, dass im Duell Sandra Maischberger zum Einsatz kommen wird, die beim letzten Mal Teil des vermaledeiten Interviewer-Quartetts war. Oder gar Frank Plasberg. Seit gestern Abend bin ich dann wieder etwas entspannter, und das hat mit einem Kommentar in den "Tagesthemen" zu tun. Isabel Schayani hat sich darin mit dem EU-Afrika-Gipfel und der dort verhandelten "Menschheitsfrage Völkerwanderung" beschäftigt ("Das Mantra gegen die Völkerwanderung lautet in wohl temperiertem Politsprech: Fluchtursachenbekämpfung") und das EU- bzw. deutschlandseitige "Pampern" von Despoten kritisiert - und mal wieder bewiesen, dass sie die derzeit beste "Tagesthemen"-Kommentatorin ist, weil sie nicht nur eine klare Haltung hat, sondern auch eine sehr eigene Form gefunden hat, diese zu präsentieren (siehe etwa diesen und diesen Beitrag). Um zum Punkt zu kommen: Es gibt in der ARD Journalisten, die fürs TV-Duell besser geeignet sind als die allerprominentesten des Ladens, und ganz besonders gilt das für die Hanns-Joachim-Friedrichs-Preisträgerin Schayani. Ein bisschen Zeit bleibt ja noch, die ARD selbst davon zu überzeugen.
Diversität, Digger!
Im Gegensatz zum TV-Duell in seiner bisherigen Form für eine Erfolgsgeschichte steht dagegen offenbar die noch relativ junge Audiothek der ARD, die ebenfalls ein Thema war bei der Pressekonferenz in Leipzig:
"Wir hatten uns zum Ziel gesetzt, in den ersten drei Monaten 50 000 Downloads zu erreichen. Jetzt sind es nach drei Wochen mehr als 243 000."
So zitiert der Tagesspiegel Nathalie Wappler Hagen, die er "die Vorsitzende der MDR-Hörfunkkommission" nennt (jedenfalls in der um 10 Uhr abrufbaren Version). Der MDR, bei dem auch das Altpapier beheimatet ist, mag nicht die schlankeste Bürokratie auf Erden sein, eine "Hörfunkkommission" existiert dort aber m.W. nicht. Tatsächlich ist Wappler die Vorsitzende der ARD-Hörfunkkommission.
"Und dann gibt es da noch den Elefant im Raum. Sein Name: Geschlechter-Diversität."
Das schreibt die Leipziger Volkszeitung, die zur Pressekonferenz den kürzesten Anreiseweg hatte. Hintergrund:
"Nachdem eine Studie der Universität Rostock, initiiert von Maria Furtwängler, Mitte des Jahres zum Ergebnis gekommen war, dass Frauen generell, ältere Frauen im Speziellen, im deutschen TV unterrepräsentiert sind, gelobt die ARD nun Besserung."
Ob der Elefant im Raum nun das passende Bild ist, sei mal dahingestellt. Wie auch immer: Was will die ARD unter anderem auf Basis der erwähnten, von ihr selbst und dem ZDF in Auftrag gegebenen Studie konkret verbessern? Sowohl bei den Informations- als auch Unterhaltungssendungen sollen mehr Moderatorinnen zum Einsatz kommen. Außerdem will man in den Fernsehfilmen den Anteil weiblicher Protagonisten erhöhen. Ins Bild passt es dann auch, dass der neue Chef des Kinderkanals von ARD und ZDF eine Frau ist: Astrid Plenk. Sie kommt vom MDR, der … nun ja, Sie wissen schon.
In Sachen Diversität zumindest eine Entwicklung in die richtige Richtung zu erkennen ist übrigens beim schon erwähnten Genre "Tagesthemen"-Kommentar. 2016 waren 40,5 Prozent der Kommentatoren Frauen. "In den fünf Vorjahren hatte der Frauenanteil jeweils bei rund einem Drittel gelegen (zwischen 31,6 und 34,9 Prozent)", schrieb die Medienkorrespondenz Anfang des Jahres im Rahmen ihrer traditionellen "Tagesthemen"-Kommentatoren-Hitliste.
Mit der Performance der ARD-Granden bei der Pressekonferenz in Leipzig erwartungsgemäß nicht zufrieden ist FAZ-Haudegen Michael Hanfeld:
"Dem Ritual (in dessen Liveübertragung wir uns zugegebenermaßen mit etwas Verspätung eingeschaltet haben) […] haftet […] etwas Politbürohaftes an, man muss zwischen den Zeilen lesen oder sich mit Ungefährem zufriedengeben und sich in die eigentümliche Sprache erst einmal hineinhören."
Wäre ja schön, wenn die FAZ über Pressekonferenzen aus der sog. freien Wirtschaft, denen nicht selten ebenfalls "etwas Politbürohaftes" anhaften dürfte, ähnlich schriebe. Konkret hat Hanfeld zu bemängeln, dass Programmdirektor Volker Herres "auf zwei Fragen eine klare Antwort schuldig bleibt":
„Die eine lautet, ob es bei der Deckelung des Sportrechte-Etats von 250 Millionen Euro pro Jahr bleibt, wo die ARD doch die Rechte am DFB-Pokal, der Bundesliga, der EM, der WM und neuerdings der umstrittenen ‚Nations League‘ (für angeblich 120 Millionen Euro) hält? 250 Millionen Euro seien der 'Durchschnittsetat' in den kommenden vier Jahren, sagt Herres und verweist auf die Mifrifi (mittelfristige Finanzplanung).“
Der Begriff Mifrifi ist übrigens geläufiger, als ich beim ersten Lesen dachte. Da wir gerade das Thema Sportrechtekosten und die Öffentlich-Rechtlichen beim Wickel haben: Obwohl ARD und ZDF 221,5 Millionen Euro zuzüglich Mehrwertsteuer an die Rechteinhaber von Discovery Communications zahlen, um umfassend von den nächsten vier Olympischen Spielen berichten zu können, dürfen sie zumindest während der kommenden Winterspiele keine Highlight-Sendungen zwischen 19 und 22 Uhr ausstrahlen. Darauf weist die Medienkorrespondenz hin. Anlass des Beitrags ist die Tatsache, dass mittlerweile sämtliche Sendergremien dem Rechtevertrag zugestimmt haben.
Mieses Klima unter Bremer Fußballjournalisten
Auf einem anderem Level sehr, sehr viel Geld für Sportberichterstattung geben gerade zwei Zeitungshäuser in der Region Bremen aus - für personalintensive Angebote, die ausschließlich dem abstiegsgefährderten Fußballbundesligisten Werder Bremen gewidmet sind. Seit April gibt es die monothematische Website Deichstube, seit Beginn der Fußball-Saison 2017/18 die Weser-Kurier-App Mein Werder. Als nicht unproblematisch erweist es sich nun, dass Mein Werder nicht nur Eigenes produziert, sondern auch aggressiv aggregiert und originäre Beiträge der Konkurrenz tendenziell noch schneller remixt als Focus Online Paid Content von bild.de. Inga Mathwig befasst sich für das NDR-Magazin "Zapp" sich mit dem ungewöhnlichen Wettbewerb:
"Dieses Konzept und die erwachsene Konkurrenz rund um Werder vergiftet die Atmosphäre unter den Journalisten der Stadt. […] Ludwig Evertz ist Sportchef bei Radio Bremen, arbeitet dort seit mehr als 30 Jahren. Er beobachtet ein sich rapide verschlechterndes Klima unter den Journalisten: 'Es gibt hier Kollegen, die arbeiten jetzt für unterschiedliche Medien, die reden gar nicht mehr miteinander. Die Situation ist so verfeindet, es ist eher ein Kampf gegeneinander, als das gemeinsame freudige Abarbeiten an Werder Bremen.'"
Ich habe über das Thema für die November-Ausgabe des Medienmagazins journalist geschrieben. Der Text steht derzeit nicht frei online.
Zensur & Zensur
Mit einem bizarren Phänomen im deutschsprachigen Feuilleton beschäftigt sich der Schweizer Blog Geschichte der Gegenwart. Sylvia Sasse geht auf die Tendenz ein, bei Protesten gegen bestimmte Kunstwerke geradezu lustvoll mit dem Begriff "Zensur" zu hantieren. Das geschehe immer dann, wenn der Protest aus einer im weiteren Sinne linken Ecke komme. Sasse schreibt:
"Schaut man sich die Berichterstattung über Proteste gegen Kunst an, dann ist letztlich entscheidend, wie diese erzählt werden. Wird der Protest einfach als Protest erzählt? Oder schon als Zensur? Dazu vielleicht ein paar andere Beispiele: 2017 wurde in Deutschland schon im Februar gegen das "Monument" - die drei ausrangierten Buswracks – von Manaf Halbouni in Dresden protestiert. Es versammelten sich Hunderte Pegida-anhänger, sie beschimpften Politiker als 'Volksverräter', sprachen von 'Entarteter Kunst', forderten, das 'Monument' zu entfernen. Niemand sprach in der Presse von Zensur durch Pegida. Sogar als der Oberbürgermeister Dirk Hilbert Polizeischutz wegen Morddrohungen bekam, Morddrohungen an den Künstler gingen, wurde nicht von versuchter Zensur gesprochen. Man hat das Ganze beschrieben als das, was es war: als ein Protest mit rassistischen Parolen und verbaler Gewalt gegen einen Künstler. Ähnlich ist es, wenn einige Katholiken oder Protestanten bzw. orthodoxe Gläubige gegen Kunstwerke demonstrieren und diese sogar zerstören, wenn diese ihre religiösen Gefühle verletzt sehen - das sind in der westlichen Welt immer noch die meisten Fälle. Niemand schreibt dann von einer katholischen Zensur oder von einer religiösen Zensur."
Eine der Herausgeberinnen von Geschichte der Gegenwart, die Genderforscherin Franziska Schutzbach, sieht sich gerade einer "Hexenjagd" ausgesetzt. So formuliert es zumindest die Basler Tageswoche. Einige Unholde aus dem rechten Medienmilieu (Weltwoche, Basler Zeitung) haben sich auf sie eingeschossen, weil sie im Mai 2016 in einem klugen Beitrag für ihren eigenen Blog (den Schutzbach aktuell noch einmal aufgreift) für mehr Zivilcourage plädiert hatte. Die taz geht ebenfalls auf die Medienkampagne gegen die Soziologin ein.
Altpapierkorb (Progressive Medienkritik, Schulz & Böhmermann, Roger Waters, Greenpeace Magazin)
+++ "Wie verändert die 'Lügenpresse'-Debatte, die vor allem von rechtskonservativen bis rechtsextremen Akteuren in teils völkischen und rassistischen Alternativmedien und auf sozialen Netzwerkplattformen geführt wird, die progressive Medienkritik? Seit Jahrzehnten haben sich linke Akteure an den Eigentumsverhältnissen und Selektionskriterien etablierter Medien abgearbeitet, eigene Medienprojekte gestartet und Gegenöffentlichkeit hergestellt. Müssen sie nun, da eine machtvolle Gegenöffentlichkeit von rechts entstanden ist, die von links-grün versiffter, gesteuerter, gleichgeschalteter Systempresse spricht und in ihren Kritikmustern zuweilen linker Medienkritik ähnelt, ihr Verhältnis zu den Mainstream-Medien neu justieren? Wo erwies sich die eigene Kritik als zutreffend, wo als problematisch?" Diesen Fragen widmet sich der Leipziger Medienwissenschaftler Uwe Krüger in einem Bericht über eine Veranstaltung des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung. Erschienen ist der Beitrag im Blog Medienrealität.
+++ Auch wenn man bereits zirka 67 Grimme-Preise gewonnen hat, bedeutet das noch lange keinen Schutz vor Erbsenzählern. Beziehungsweise: Selbst bei einem sehr spät ausgestrahlten Nischenformat in einem Nischenkanal muss die Quote stimmen. Das musste nun Jan Böhmermann erfahren, denn ZDFneo stellt "Schulz & Böhmermann" mit der Begründung ein, "der unkonventionelle Promi-Talk" habe "leider auch mit der zweiten Staffel nicht die erhoffte Zuschauerresonanz erreicht". Unter anderem der Tagesspiegel berichtet.
+++ Um die Perspektiven des Fernsehens aus Produzentensicht geht es in einem Interview, das die Stuttgarter Zeitung mit Oliver Vogel, dem "Kreativ-Chef" der Bavaria Fiction, geführt hat. Vogel spricht unter anderem über "Germanized", "die erste Eigenproduktion für die Telekom-Plattform EntertainTV": "'Germanized‘ handelt von einem südfranzösischen Küstenort, der kurz vor der Pleite steht und nun von einer deutschen Firma und deren Mitarbeitern gerettet werden soll. Hier treffen dann die doch sehr unterschiedlichen Kulturen aufeinander. In den Hauptrollen spielen Christoph Maria Herbst, den viele aus der Serie 'Stromberg' kennen, und Roxane Duran, die im Film 'Das weiße Band' mitgespielt hat." Außerdem preist Vogel in dem Gespräch sehr großzügig die von ihm produzierte ZDF-Serie "Soko Stuttgart".
+++ Jens Balzer wirft bei Zeit Online angesichts der richtigen, wenn auch späten Entscheidung diverser öffentlich-rechtlicher Sender, Konzerte des nicht ungefährlichen Wirrkopfs Roger Waters nicht mehr zu "präsentieren" (siehe etwa dieses Altpapier), en passant die grundsätzliche Frage auf, warum Öffentlich-Rechtliche überhaupt Veranstaltungen aus der Konzertbranche "präsentieren".
+++ Seinen in der vergangenen Woche in epd medien erschienenen Leitartikel über ausgewählte Dokumentarfilme, die er bei der Duisburger Filmwoche gesehen hat, hat Fritz Wolf nun bei wolfsiehtfern.de veröffentlicht. "Es besteht Redebedarf. Ständig prallen irgendwo Welten aufeinander. Und kann man überhaupt reden, mit Rechten zum Beispiel? Andreas Glarner, ein rechtspopulistischer Hetzer aus der Schweiz befürchtet, in zehn Jahren seien Deutschland und Frankreich islamisiert und die Schweiz dazwischen eingeklemmt. Das sagt er auf Veranstaltungen und im Film. Wie redet man mit dem? Paulina, die Aktivistin, die den Einzug der AfD in den Bundestag verhindern wollte, will unbedingt mit den Rechten reden, aber es klappt nicht." Der sehr aktuelle Film, auf den sich Wolf in dieser Passage bezieht, heißt "Egal gibt es nicht", er lief kürzlich in der 3sat-Reihe "Ab 18!" und ist noch in der Mediathek zu finden.
+++ Kurt Stukenberg, der Chefredakteur des Greenpeace Magazins, wehrt sich in einem Gastbeitrag für meedia.de gegen die Einschätzung der taz, seine Zeitschrift gehöre "zumindest formal zu den Corporate Media" bzw. sei eine "PR-ähnliche Publikation" (siehe Altpapier): "Das Greenpeace Magazin wird nicht von Greenpeace e.V. herausgegeben, sondern von der Greenpeace Media GmbH - einer hundertprozentigen Tochter der Umweltschutzorganisation. Das Besondere: Das Greenpeace Magazin ist keine Mitgliederzeitschrift (diese heißt Greenpeace Nachrichten) und ist redaktionell, inhaltlich und finanziell unabhängig. Die Media GmbH wurde dezidiert als unabhängiges Medienunternehmen gegründet, das im Unterschied zur Mitgliederzeitschrift frei über Themen wie Ökologie, Klima und soziale Bewegungen berichten darf und soll. Bedingung: Ihr müsst euch selber tragen. Deshalb entscheidet seit fast 25 Jahren ausschließlich die Redaktion, was es ins Heft schafft und wie, finanziert durch Erlöse aus den rund 80.000 Abonnements. Ohne jegliche Werbung. Ohne Mittel von Greenpeace." Sechs Thesen, mit denen er "die Debatte um die Zukunft des Qualitätsjournalismus bereichern" will, hat Stukenberg auch im Köcher.
+++ Verstorben sind Mathias Zschaler, Talkshowkritiker für Spiegel Online (Nachruf ebd.), und der Nürnberger Cartoonist Gerd Bauer (nordbayern.de)
Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.