Das Altpapier am 20. Juni 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier am 20. Juni 2022 Der Fall Assange

20. Juni 2022, 09:31 Uhr

Julian Assange soll wohl an die USA ausgeliefert werden. Mehr als eine Meldung darüber ist nicht überall drin. Aber müssten deutsche Verlagshäuser nicht solidarisch sein? Und: ein intransparent korrigierter Fehler der "Tagesschau". Ein Altpapier von Klaus Raab.

Die Nachricht: Julian Assange droht die Auslieferung

Die Frist, innerhalb der die britische Innenministerin Priti Patel eine Entscheidung über die Auslieferung des Wikileaks-Gründers und Whistleblowers Julian Assange an die USA treffen musste, lief am Freitag ab. Patel hat sie nicht verstreichen lassen – und Assanges Auslieferung bewilligt. So lautete die Mediennachricht des Freitags (zeit.de, spiegel.de, sueddeutsche.de, taz.de).

Er kann die Entscheidung noch anfechten, doch "sollte Assanges Einspruch abgelehnt werden – und nichts spricht derzeit für eine andere Wendung –, droht ihm in den USA eine aberwitzige Haftstrafe von 175 Jahren", schreibt Deniz Yücel in der "Welt". Soweit der nachrichtliche Stand der Dinge im Fall Assange.

Assanges Fall: die Rolle der deutschen und europäischen Politik

Um die mediale Diskussion zusammenzufassen, die über die Nachricht hinausgeht, braucht man ein paar Zeilen mehr. Sie beginnt der Frage, ob es für Großbritannien Gründe gegen eine Auslieferung gäbe. Michael Hanfeld argumentierte in der "FAZ" im Grunde auf der Linie des Auslieferungsantrags der USA und schrieb den Assange-kritischsten Kommentar des Wochenendes: "Die Agenda von Assange, der 2012 eine Talkshow bei Russia Today hatte, konzentriert sich auf die USA. Wer ihn für einen Helden der Pressefreiheit hält, sollte einmal genau hinsehen."

Aus Sicht vieler anderer – auch in derselben "FAZ"-Ausgabe – gibt es dagegen sehr gute Gründe gegen eine Auslieferung, und sie müssen Assange dafür nicht einmal zwangsläufig zum "Helden" stilisieren. Constanze Kurz schrieb vorab bei Netzpolitik.org, eine Auslieferung wäre…

"ein Fanal für Journalisten und Whistleblower, aber auch für Verleger, politisch Interessierte und letztlich jeden Zeitungsleser. Denn die Botschaft lautet: Wer es Assange nachmacht, unbestritten wahrhaftige Informationen veröffentlicht und Kriegsverbrechen, Folter und Völkerrechtsbrüche aufdeckt, der wird jahrelang verfolgt, verleumdet und regelrecht gejagt mit allen Mitteln, die den Vereinigten Staaten zur Verfügung stehen. (…) Kritische Berichterstattung darf aber nicht durch Einschüchterung unterdrückt werden."

Und Deniz Yücel argumentiert:

"Assange hat in seinen Enthüllungen mitunter jenes Verantwortungsbewusstsein vermissen lassen, das zum freien Gebrauch der Pressefreiheit gehört. Doch während die Verantwortlichen der aufgedeckten Kriegsverbrechen straffrei davonkamen, hat er für seine Fehler einen hohen Preis bezahlt: elf Jahre Unfreiheit. (…) Wie kein anderer im vergangenen Jahrzehnt verkörpert der Name Julian Assange die Antwort auf die Frage: Was sind sogenannte westliche Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und Folterverbot wert, wenn es ernst wird? Zieht man allein seinen Fall zur Grundlage, lautet die niederschmetternde Antwort: nicht viel".

Entsprechend deutlich fielen die Formulierungen von Verbänden, NGOs und Interessenvereinigungen aus (Zusammenfassung bei zeit.de) von Deutschem Journalisten-Verband bis zu Yücels PEN Berlin (über den man eines nicht sagen kann: dass er nicht da wäre, wenn man einen PEN braucht). Der äußerte sich "schockiert" und ersuchte "die Bundesregierung dringend, sich für seine", also Assanges, "sofortige Freilassung einzusetzen und ihm politisches Asyl anzubieten." Dazu müsse die Bundesregierung "nur halten, was sie versprochen hat", so der PEN Berlin, um dann Annalena Baerbocks Forderung nach Assanges Freilassung zu zitieren.

Dass Baerbock diese Forderung nicht als Außenministerin, sondern noch als einfache Abgeordnete erhoben hat, gehört auch zur Geschichte: Eine Bundesregierung hat im Fall Assange bislang nichts versprochen.

Die Zurückhaltung der aktuellen Bundesregierung zumindest zu hinterfragen, könnte man dennoch als Journalistenpflicht betrachten. "Jung&Naiv"-Macher Tilo Jung erfüllte sie konfrontativ in der Bundespressekonferenz. Und die "Berliner Zeitung" nahm die Kritik an der Regierung vermittels eines Interviews mit dem EU-Parlamentarier Martin Sonneborn ins Blatt, in dem der Die Grünen des "Verrats an einstigen Idealen und Prinzipien" bezichtigt und SPD und CDU kritisiert, sie würden im Europaparlament "den Namen Assange in parlamentarischen Berichten zur Pressefreiheit aus jeder noch so unbedeutenden Fußnote" herausstreichen.

Dann aber die FDP nicht vergessen, die auch mitgestimmt habe, "den Fall Assange im Grundrechtebericht der Europäischen Union NICHT zu erwähnen": Das würde nun vielleicht Wolfgang Michal ergänzen, der in einem flink veröffentlichten, aber keineswegs schnell geschrieben wirkenden Meinungsbeitrag bei freitag.de ebenfalls mit der deutschen Politik einsteigt, die sich "auf die Lippen" beiße. Mehr Raum nimmt in Michals Text aber eine andere Frage ein…

Sollten Presseverlage solidarisch mit Assange sein?

"Warum engagieren sich die Presseverlage, die eine Zeit lang von Wikileaks profitierten und sich in Assanges Weltruhm sonnten, so wenig für ihren ehemaligen Partner?", fragt Wolfgang Michal.

Die Frage betrifft in Deutschland zum Beispiel den "Spiegel", der etwa 2010 neben "New York Times" und "Guardian" die mehr als 90.000 US-amerikanischen zum Teil als "geheim" eingestuften Berichte über den Afghanistan-Krieg sichten konnte, die Assanges Wikileaks-Plattform veröffentlichte, und zum eigenen Aufmacher machte. "Rohmaterial für die spätere Geschichtsschreibung" seien diese Datensätze, schrieb der "Spiegel" damals in einem 28-Minuten-Longread, der zusammen mit einem Assange-Porträt zum Aufmacher wurde.

Was an der "Spiegel"-Berichterstattung über die drohende Auslieferung Assanges an die USA heute auffällt, ist dagegen, dass es nur wenig davon gibt: Für den gedruckten "Spiegel" vom Wochenende dürfte die aktuelle Nachricht zwar tatsächlich zu spät gekommen sein; bei spiegel.de stand die Meldung am Freitag aber sehr bald auch nur noch unter "ferner liefen" auf der Startseite. (Das ist allerdings keine Exklusiveinschätzung des "Spiegels": In der "Süddeutschen Zeitung" tauchte die Assange-Nachricht, von einem Newsletter von Heribert Prantl abgesehen, nur auf Seite 7 der Samstagsausgabe unter "Kurz gemeldet" auf.)

Wolfgang Michal argumentiert, dass Assange bei Verlagshäusern wohlgelitten gewesen sei, als er "eine Branche, die in der Krise steckte" – also die Medienbranche – "vor dem Bedeutungsverlust bewahren" zu können schien, dass er heute aber nicht mehr gebraucht werde, schon weil Redaktionen "ihre eigenen Briefkästen für Whistleblower etabliert" hätten.

Er meint aber, dass sie sich "ins eigene Fleisch" schneiden, "wenn sie glauben, mit ein paar pflichtschuldigen Appellen an die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens sei es getan":

"Würden die US-Ankläger (wie bei der Whistleblowerin Chelsea Manning) mit ihrem Spionagevorwurf durchkommen, bedroht dies mittelbar die Pressefreiheit aller investigativen Journalisten. Dann könnten Enthüllungsvorhaben mit der staatlichen Drohung 'Spionage' entschärft oder gar komplett verhindert werden."

Das ist der Punkt, und wenn Assanges Verteidiger dafür eintreten, dass er als Journalist und nicht als Aktivist betrachtet wird, geht es genau darum: dass journalistische Recherchen diskreditiert oder gar unterdrückt werden könnten, indem man ihnen das Label Aktivismus aufklebt und abspricht, Journalismus zu sein.

"Als Journalist fiele sein Enthüllungshandeln unter den Schutz der Pressefreiheit, denn es wäre – da es um die Aufdeckung von Missständen ging – im öffentlichen Interesse. Als Aktivist würde sein Handeln vorrangig daran gemessen, ob es die nationalen Interessen und Zuträger der Staatsmacht gefährdet."

So Michal. Markus Reuter fasst die mediale Debatte und Nichtdebatte bei netzpolitik.org zusammen:

"Über die Person Julian Assange und seine politischen Einstellungen lässt sich streiten. Nicht streiten lässt sich darüber, dass sich die Strafverfolgung von Julian Assange und die Bedrohung seiner Person mit 175 Jahren Haft gegen die Freiheit der Information, gegen Whistleblowing und gegen die Pressefreiheit an sich richten."

Eine "nachträgliche redaktionelle Bearbeitung"

"Wenn Sie im Sendungs-Archiv der 'Tagesschau' unter der schriftlichen Inhaltsangabe den Hinweis sehen: 'Die Sendung wurde nachträglich redaktionell bearbeitet.' – Was würden Sie annehmen, ist damit gemeint?"

So steigt Stefan Niggemeier in seinen "Übermedien"-Newsletter vom Sonntag ein und erhebt einen schweren Vorwurf: dass ein gravierender Fehler nicht transparent korrigiert, sondern durch die Formulierung von der "redaktionellen Bearbeitung" vernebelt worden sei. Worin der Fehler besteht: Aus zivilen Opfern eines ukrainischen Angriffs auf einen Markt in der von pro-russischen Separatisten gehaltenen Region Donezk seien in mehreren "Tagesschau"- und einer "Nachtmagazin"-Ausgabe zivile Opfer eines russischen Angriffs geworden.

"Das ist exakt die Art Fehler, die nicht passieren darf", schreibt Niggemeier. "Aber sehr viel ärgerlicher als der Fehler ist der Umgang der 'Tagesschau' damit". Nach einigen Tagen sei ein verspäteter Hinweis auf einen "Fehler" in einem Blog erfolgt, ohne Verlinkung zu den Sendungen und zum Film, der korrigiert wurde. Ich sach’ mal so: herrje.


Altpapierkorb ("Nachträgliche Bearbeitung", "Stern-Preis", Macrons Pläne)

+++  Die "nachträgliche Bearbeitung" ist bei tagesschau.de ein weites Feld. Unklarheit darüber, was genau warum bearbeitet wurde, kann Zuschauerinnen und Leser aber durchaus irritieren, auch in anderen weniger gravierenden Fällen. Einer unserer Leser schrieb uns, er hätte sich gerne einen "Tagesthemen"-Beitrag über ein Interview mit Angela Merkel im Rahmen einer Buchvorstellung des Aufbau-Verlags angesehen, um den es hier im Altpapier gegangen war. Der Beitrag aus der Sendung vom 7. Juni sei aber online nicht verfügbar. "Hinweis: Sendung nachträglich bearbeitet. Der Beitrag zum Merkel-Interview darf aus rechtlichen Gründen nicht gezeigt werden", stand noch in der Nacht zum Montag auf tagesschau.de unter der besagten Sendung. "Was könnten das für 'rechtliche Gründe' sein?", fragt der Leser.

Das Interview mit Merkel wurde nicht von einem öffentlich-rechtlichen Sender veranstaltet, aber von Phoenix ausgestrahlt wurde – einem Gemeinschaftskanal von ARD und ZDF. Und in der ARD-Mediathek ist das Gespräch nach wie vor in voller Länge abrufbar. Auch andere öffentlich-rechtliche Redaktionen zeigten – und zeigen auch online – Bilder aus der Veranstaltung (etwa "heute journal" vom 7. Juni, "Maischberger" vom 8. Juni). Nur aus der Onlinefassung der "Tagesthemen" wurden sie herausgeschnitten.

Beim zuständigen NDR erklärt man auf Nachfrage die Entfernung der Bilder aus der Onlinefassung damit, dass die "ARD-Aktuell"-Redaktion "seitens Phoenix und des Veranstalters eine Verwendungsbeschränkung mitgeteilt bekommen und diese entsprechend umgesetzt" habe. Bei Phoenix reagiert man auf Anfrage etwas verdutzt und schreibt: "Bitte wenden Sie sich an ARD-Aktuell. Von phoenix gibt es keine Beschränkung für die von Ihnen beschriebene Verwendung."

Klärung kommt vom Aufbau-Verlag, dem Veranstalter des Gesprächs. Die Rechte an der Liveübertragung habe Phoenix bekommen. Die unterschiedliche Handhabung der Auszüge in verschiedenen ARD- und ZDF-Sendungen komme dadurch zustande, dass "es viele Anfragen von privaten Filmproduktionsfirmen gab, die das Material für etwaige Kinofilme oder Dokumentationen erhalten wollten und das Büro Merkel hier Einschränkungen vornehmen musste". Für die tagesaktuelle Berichterstattung habe es aber – außer der üblichen Beschränkung auf eine Länge von 1:30 Minute – keine Regulierung gegeben. In Mediatheken könne das Bildmaterial auf Nachfrage ein halbes Jahr lang genutzt werden.

Das sind also die "rechtlichen Gründe", nach denen unser Leser gefragt hat: Es gibt, in meinen Worten, eine Beschränkung, damit die Nutzung nicht komplett ausufert, aber kein generelles Nutzungsverbot. Der wegen eines "Missverständnisses" aus dem Netz genommene Ausschnitt aus den "Tagesthemen" soll nun wieder online gehen, schrieb mir am Freitag der NDR.

+++ Der "Henri-Nannen-Preis" wird in "Stern Preis" umbenannt – erstmal "einmalig", wie es heißt. ("Tagesspiegel")

+++ Und noch nach Frankreich: Seltsam sei "die Ankündigung, die Gebühr für den öffentlichen Rundfunk ersatzlos streichen zu wollen. Macron möchte die öffentliche französische Medienlandschaft nicht abschaffen – das gäbe auch Bürgerkrieg – aber das Geld dafür soll nun anders erhoben werden. Wie, weiß kein Mensch", schreibt Nils Minkmar in seinem Newsletter. Hintergründe erklärt er im "Holger ruft an…"-Podcast.

Neues Altpapier erscheint am Dienstag.

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