Das Verlegeschiff "Audacia" des Offshore-Dienstleisters Allseas verlegt in der Ostsee vor der Insel Rügen Rohre für die Gaspipeline Nord Stream 2.
Das Schiff "Audacia" verlegt 2018 in der Ostsee Rohre für die Gaspipeline Nord Stream 2. Bildrechte: picture alliance/dpa | Bernd Wüstneck

Krieg in der Ukraine SPD-Ostpolitik: Vom "Wandel durch Annäherung" zur "Zeitenwende"

13. April 2024, 05:00 Uhr

Derzeit wird ein Brandbrief von fünf sozialdemokratischen Historikern zur Ukrainepolitik der SPD diskutiert. Es geht unter anderem um Solidarität mit der Ukraine, die Aufarbeitung eigener Fehler in der Russlandpolitik der letzten Jahre und eine klare Kante gegen Putin. Die Ostpolitik Willy Brandts, geprägt von Annäherung und Entspannung galt als weitsichtig. Und jetzt? Darüber sprach MDR GESCHICHTE mit Prof. Dr. Stefan Rohdewald, Historiker an der Universität Leipzig.

MDR GESCHICHTE: Die Geschichtsprofessoren Martina Winkler, Gabriele Lingelbach, Dirk Schumann, Jan C. Behrends und Heinrich August Winkler schreiben Ende März 2024 einen Brandbrief an den SPD-Parteivorstand. In dem Schreiben kritisieren die fünf die Russlandpolitik der letzten Jahre. Wodurch zeichnet sich diese Kritik aus Herr Rohdewald?

Rohdewald: Die Kritik zielt hauptsächlich auf die Energiepolitik. Die Unterstützung von Nord Stream 1 und 2 begann mit der Regierung Schröder während der beginnenden 2000er-Jahre. Die Einschätzung Russlands war damals schon kontrovers, bereits während des Zweiten Tschetschenienkriegs.

Prof. Dr. Stefan Rohdewald
Interviewpartner Prof. Dr. Stefan Rohdewald lehrt an der Universität Leipzig Bildrechte: Stefan Rohdewald

So war es schon damals nicht Konsens, dass man ohne Bedingungen Wandel durch Handel erreicht. Man argumentierte immer noch im Sinne der Versöhnungspolitik nach dem Ende des 2. Weltkriegs, dass man keines Falls eine Konfrontation mit Russland haben möchte. Das ist nachvollziehbar. Allerdings war Russland nach 1991 letztlich eben nur einer von zahlreichen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Alle anderen früheren Teilrepubliken beanspruchten genau den gleichen Status als völlig unabhängige Staaten mit eigenen sicherheitspolitischen Zielen und Interessen.

Die deutsche Politik hat sich in den letzten Jahrzehnten zu oft auf eine russische Position eingelassen. Auch nachdem Polen und die baltischen Staaten EU-Mitglieder wurden, wurden Bedenken ihrerseits, beispielsweise an der Energiepolitik, in Berlin nicht ernst genommen und als Einmischung in eigene Angelegenheiten verstanden. Dies wurde in Polen und im Baltikum seit Beginn dieses Diskurses stark kritisiert und führte auch zu einer Verschlechterung des Klimas gegenüber Deutschland, was aber die deutsche Politik kaum beeindruckt oder beschäftigt hat.

MDR GESCHICHTE: Wie hätte man sich in der Ostpolitik umorientieren müssen?

Rohdewald: Deutschland hat die sicherheitspolitischen Interessen Polens im energiepolitischen Bereich zu lange ignoriert. Man hat den Nato-Beitritt unterstützt, ja, aber mit Nord Stream 1 und 2 wurde das in die Unglaubwürdigkeit gekehrt. Stattdessen hat Polen seit 2013 mit EU-Unterstützung einen Pipeline-Anschluss an das bestehende norwegische Netzwerk gebaut. Es handelt sich bei der Verantwortung für die Fehler der deutschen Politik nicht nur um die SPD, während der Zeit der Koalition wurde die Politik von der CDU mitgetragen.

2008 erfolgte die russische Invasion in Südossetien auf georgischem Staatsterritorium und die noch stärkere russische Unterstützung von Abchasien. Das war ein Wendepunkt, auf den man stärker hätte eingehen müssen, beziehungsweise auf die Bedenken, die auch nun im Baltikum und in Polen geäußert wurden. Trotzdem hat Deutschland weiterhin viel zu lange eine eigene Suppe gekocht und diese deutsche Politik dabei als europäisch etikettiert. Aber es handelte sich spätestens nach 2014 nicht mehr um europäische Politik, sondern nur noch um deutsche Politik.

Die Sanktionen nach der sogenannten Annexion der Krim waren viel zu lasch. Vorher waren Pipelines über das Schwarze Meer in die Ukraine geplant worden. Die dann natürlich nicht gebaut wurden. Stattdessen wurden russische Pipelines gebaut. Bedeutende Erdölförderplattformen und Erdgasfelder im Schelf der Ukraine gingen mit der Annexion der Krim verloren, das heißt es ging auch hierbei ganz konkret um Energiepolitik. Umso schwerer wiegt gerade innerhalb dieses engen Bereichs der Energiepolitik dann der Irrtum Deutschlands, trotzdem an Nord Stream 1 und 2 festzuhalten.

MDR GESCHICHTE: Im Historiker-Brief steht, dass die Tradition der Außenpolitik von Egon Bahr unkritisch und romantisierend hochgehalten wird. Wie unterscheiden sich die Ausgangslagen von damals und heute?

Rohdewald: Heute haben wir es mit einem tatsächlichen Krieg zu tun. Aus russischer Sicht wird dieser wie ein Weltkrieg inszeniert. Im Gegensatz zum Kalten Krieg handelt es sich gegenwärtig jedenfalls um einen "heißen" Krieg, das lässt sich nicht beschönigen. Auch im Kalten Krieg gab es Aufstände, die niedergeschlagen wurden, es gab den Afghanistan-Krieg oder auch die Schweinebuchtkrise.

Aber in Europa kam es im Rahmen des Kalten Kriegs, abgesehen von den Niederschlagungen 1953, 1956 und 1968 sowie dem Kriegsrecht in Polen ab 1981, zu keinem offenen Krieg. Insofern liegt spätestens seit 2014 eine grundsätzlich andere Situation vor. Auch schon vorher kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen, wenn man zum Beispiel an Georgien 2008 denkt. Und seit 2022 versucht Russland nun jeden Tag mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, abgesehen von Atomwaffen, militärisch die maximalen Ziele durchzusetzen. Vergleichbares gab es nicht während des Kalten Kriegs auf europäischen Boden.

Der frühere NATO-General und Generalleutnant a.D. Erhard Bühler 68 min
Bildrechte: MDR / Erhard Bühler

MDR GESCHICHTE: Wurde der Ansatz von "Wandel durch Annäherung" zu lange verfolgt? Woran kann man das festmachen?

Rohdewald: Spätestens 2014, nach der Annexion der Krim, hätte man die Notbremse ziehen müssen. Damals hat man es verpasst, eine harte Linie vorzugeben, weshalb sich die Moskauer Politik bestätigt fühlte. Spätestens seither war Deutschland isoliert mit dieser Energiepolitik. 2014 wurde eine Europäische Strategie für Energieversorgungssicherheit verabschiedet, in der das wichtigste Argument war, sich nicht noch weiter abhängig zu machen von einzelnen Lieferanten, namentlich nicht vom Russland. Und trotzdem hat die Bundesregierung am Bau von Nord Stream 2 festgehalten.

MDR GESCHICHTE: Wurde der "Wandel durch Annäherung" der "Wandel durch Anbiederung"?

Rohdewald: Das Verkennen der Realität könnte man als Anbiederung betrachten. Denn die russische Seite führt einen massiven Krieg und zwar täglich. Aktuell geht es für die Ukraine um das Halten der Linie und schon lange nicht mehr um eine Gegenoffensive. Wenn sie jetzt nicht noch stärker unterstützt wird, und zwar sehr schnell und nicht nur mit Versprechungen, dann droht diese Verteidigung zusammenzubrechen und eine große Fluchtwelle könnte die Folge sein. Auch erhoffte, allerdings kaum eintretende negative Folgen von Fluchtmigration für Staaten der EU zählen zum Kalkül Putins, das zeigte bereits der Syrienkrieg.  

Es ist eine völlige Fehleinschätzung, jetzt zu denken, dass man Russland in eine friedliche Bahn lenken könnte, indem man die Ukraine nicht unterstützt. Nein, im Gegenteil, das wäre eine Ermutigung zur Besetzung der gesamten Ukraine. Die russischen Ziele sind öffentlich verkündet. Es geht um die Auflösung der Ukraine.

Patriarch Kyrill, das Oberhaupt der russisch-orthodoxe Kirche, hat kürzlich den Heiligen Krieg gegen den angeblich satanischen Westen verkündet. Das sind keine Friedenssignale, im Gegenteil, das steht für die weitere Eskalation. Es wird in Russland wenig differenziert zwischen dem Krieg gegen die Ukraine und einem Weltkrieg. In der russischen Medienlandschaft spricht man seit mindestens zehn Jahren von einem Weltkrieg, einem dritten Weltkrieg. Das kann man für Unsinn halten, aber es gibt natürlich den Diskurs vor.

MDR GESCHICHTE: Inwieweit sind die Ansätze der Ostpolitik unter Brandt und Bahr noch heute relevant für die Ostpolitik?

Rohdewald: Im Kontext des Ansatzes von Willy Brandt und Egon Bahr beziehungsweise in der KSZE (Anm. d. Red.: Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und OSZE (Anm. d. Red.: Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) ging es der Sowjetunion und den sozialistischen Staaten nicht zuletzt um die Sicherung staatlicher Grenzen. Spätestens seit 2008 mit Georgien oder 2014 mit der Annexion der Krim stellt Russland aber das Prinzip von anerkannten Staatsgrenzen infrage. Das darf nicht noch weiter Schule machen. Alle staatlichen Grenzen in Europa existieren eigentlich nur in dem Konsens, dass sie unverrückbar sind.

MDR GESCHICHTE: Wie könnte eine angepasste Ostpolitik heute aussehen?

Rohdewald: Es muss bei einer eindeutigen Politik gegenüber der Ukraine bleiben. Das heißt, es darf nicht der Eindruck entstehen, als ob jetzt diese Prinzipien doch zur Verhandlung stehen würden, nämlich staatliche Grenzen. Und es darf nicht sein, dass man jetzt die Ukraine nicht genügend unterstützt. Aktuell kann sie sich nicht adäquat verteidigen.

Ich bin nicht für eine Eskalation auf russischem Territorium, dass die Ukraine aber gezielt strategische Angriffe auf russische Militärflughäfen durchführt, von denen sie angegriffen wird, und nach Möglichkeit auch auf die Krimbrücken, die eine wichtige Rolle für die russische Militärlogistik spielen, das sollte unstrittig sein. Es braucht eine langfristige Politik, die die Ukraine als Teil der Europäischen Union und als Nato-Staat mitberücksichtigt. Die Ukraine hat das gleiche Recht auf staatliche Sicherheitspolitik wie Russland. Da ist immer noch ein Ungleichgewicht in der Wahrnehmung. Russland ist nicht wichtiger als die Ukraine! Und nur mit dem Verzicht auf die militärisch erzwungenen Gebietsgewinne hat ein langfristig immer noch mögliches demokratisches Russland eine Chance.

Unser Gesprächspartner: Prof. Dr. Stefan Rohdewald Prof. Dr. Stefan Rohdewald studierte osteuropäische Geschichte, slawische Literaturwissenschaft, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. 2013 wurde als er als Professor für Südosteuropäische Geschichte an der Universität Gießen berufen. Im April 2020 wechselte er als Professor für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an die Universität Leipzig

(mp)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um 11 | 02. März 2023 | 11:00 Uhr

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