Auf Spurensuche "Goldstaubviertel" Radebeul - was ist dran am Klischee?
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24. März 2014, 09:31 Uhr
Klischees halten sich gern und hartnäckig – niemand weiß das besser als die Radebeuler. Während das Rathaus am liebsten von der Wein- und Gartenstadt und von Karl May spricht, haftet der Kleinstadt das Image von der "Stadt der Millionäre" oder im Volksmund vom "Goldstaubviertel" an.
Inhalt des Artikels:
- Ländliche Idylle
- Keine Privatschule für die Kinder
- Keine Höhenflüge, keine Schickeria
- Unternehmer schätzen ruhige Lage und Infrastruktur
- "Radebeul ist eine Schlafstadt für Besserverdienende"
- Wo leben Sachsens Millionäre?
- Woher stammen die Millionen?
- Durchschnittliche Einkünfte je Millionär 1992-2007
Ein sonniger Morgen im März - es surrt, das Tor öffnet sich, Mathilda Bengen (Name von der Redaktion geändert) tritt aus der Tür. Die schlanke Mittvierzigern streift sich ihre Wildlerderstiefeletten über die eng anliegende Jeans. Der mit Pailletten bestickte Pullover verschwindet unter einer Kutte. Ob es möglich wäre, das Interview gleich bei einem Spaziergang zu führen, fragt sie - die Hunde müssten dringend raus. Es geht vorbei an einer Kleingartensparte, durch einen Bahntunnel hin zu einem Neubaugebiet. "Ich bin keine Millionärin", geht Mathilda forsch in das Gespräch. Aber freilich kenne sie einige Leute in Radebeul, die zu Wohlstand gekommen seien. Ausschließlich, und das betont sie immer wieder, handele es sich um Unternehmer, die durch harte Arbeit und Geschäftssinn zu Geld gekommen seien.
Ländliche Idylle
Auch Mathilda Bengen und ihr Mann, ein Unternehmer, sind, wie viele ihrer Bekannten, kurz nach der Wende nach Radebeul gekommen. Die fast ländliche Idylle habe sie damals wie heute fasziniert, erzählt sie im ostwestfälischen Dialekt. Der Weiße Hirsch - ein nobles Wohnviertel über den Dächern Dresdens - stand damals zwar ebenfalls auf der Agenda. "Die Infrastruktur war aber sehr schlecht. Es gab kaum etwas zum Einkaufen, das hat sich dort erst in den vergangenen Jahren entwickelt." Das Preis-Leistungsverhältnis auf dem Weißen Hirsch habe nicht gestimmt. Die Häuser waren unsaniert und teuer. In Radebeul dagegen gab es dieses Schnäppchen - eine Villa, nicht in den Weinbergen, aber dennoch traumhaft.
Keine Privatschule für die Kinder
Nach und nach hat die Familie Haus und Grundstück in einen Zustand versetzt, der heute neugierige Blicke über die vorbildlich sanierte Bruchsteinmauer schweifen lässt. Die Garage hat sich mit Luxuswagen gefüllt, exklusiven Urlaub gönnen sich Mathilda und ihre Familie regelmäßig. Doch sie achten darauf, dass die Kinder "normalen Umgang" haben. Keine Privatschule, stattdessen stinknormal staatlich. "Wir wollen, dass sie von anderen Kindern lernen und dass sie ihr eigenes Leben zu schätzen wissen. Ich finde es schön, dass alles so gemischt ist. Und das geht vielen anderen auch so, die mehr Geld als andere haben."
Alles so gemischt - damit meint Mathilda Bengen nicht nur die gemeinsame Beschulung mit Kindern aus "normalen" Familien. Damit meint sie auch das Leben in Radebeul insgesamt. Ja, der Lebenstandard ist hoch und ja, die Mieten steigen seit Jahren. Dass der Normalverdiener aus der Stadt vertrieben wird, das glaubt sie aber nicht.
Keine belastbaren Quellen für Millionärsüberschuss
Und das will vor allem Oberbürgermeister Bert Wendsche nicht. Seitdem Zeitungen, Zeitschriften und Magazine über die "Stadt der Millionäre" berichten, immer wieder Immobilienmakler und Autohausbesitzer befragt werden, scheint der parteilose Politiker genervt von dem Thema. Es gebe keine belastbaren Quellen, die belegten, dass Radebeul die Stadt der Millionäre sei. "Wir als Stadt haben über die Einkommensstruktur unserer Einwohner keinerlei Informationen", antwortet er schriftlich auf die Frage, wie die Stadt möglicherweise von der Ansiedlung der Schwerverdiener profitiert. Daten über Einkommensstrukturen lägen dem Rathaus nicht vor, heißt es weiter.
2012 weniger Millionäre in Sachsen
In früheren Interviews betonte Bert Wendsche immer wieder, er wisse nicht, woher die Aussage stamme, in Radebeul lebten 250 Millionäre. Es handelt sich mit Sicherheit um eine geschätzte Zahl, die aber deutlich zu hoch gegriffen scheint. Denn nach den Zahlen des Statistischen Landesamtes gab es 2007 in Radebeul bis dato sieben Einkommensmillionäre - im Amtsdeutsch: "Steuerpflichtige mit einem Gesamtbetrag der Einkünfte (GdE) von einer Million Euro und mehr." Im gesamten Landkreis Meißen waren es damals 16, sachsenweit 180. Verglichen mit den Zahlen aus einer Anfrage der Linken im Sächsischen Landtag vom 5. März 2014, leben inzwischen sogar weniger Millionäre in Sachsen und damit wohl auch in Radebeul. Denn, so geht aus den Zahlen von Sachsens Finanzminister Georg Unland hervor, lebten 2012 insgesamt 108 Einkommensmillionäre in Sachsen, acht davon im Landkreis Meißen.
Keine Höhenflüge, keine Schickeria
Damit dürfte das Klischee von den 250 Millionären in Radebeul wohl widerlegt sein. Auch wenn man rausrechnen muss, dass manche Unternehmer - so wie Ehemann Bengen - den Firmensitz außerhalb von Sachsen haben.
Um das anhaftende Wohlstandsklischee zurückzudrängen, legte Oberbürgermeister Wendsche im März 2011 eine weitere Statistik vor. In dieser ging es um die sogenannten Deckungsmittel. 24 Städte mit einer Einwohnerzahl zwischen 20.000 und 100.000 wurden nach der Finanzlage ihres städtischen Haushaltes verglichen. Und siehe da: Radebeul landete auf Platz 8, auf den Plätzen 1 bis 3 lagen damals Freiberg, Zwickau und Hoyerswerda. Die Radebeuler Finanzausstattung sei gerade einmal durchschnittlich, teilte Wendsche damals seinen Bürgern mit. "Für Höhenflüge besteht kein Anlass."
Unternehmer schätzen ruhige Lage und Infrastruktur
Für Höhenflüge sieht auch Mathilda Bengen keinen Anlass. Kaum jemand stelle in Radebeul seinen Reichtum zur Schau, betont sie. "Das ist nicht vergleichbar mit der Schickeria in Düsseldorf oder Frankfurt." In Ruhe genießen sei das, was das Leben hier ausmache. "Die Leute wohnen nicht hier, weil sie denken, sie müssen hier wohnen oder weil es angesagt ist. Vielmehr hat es sich im Laufe der Jahre so entwickelt. Viele Menschen ziehen hierher, weil sie Gleichgesinnte finden, weil sie das intellektuelle Flair mögen und weil es beispielsweise auch gute Lebensmittel zu kaufen gibt."
Unternehmer schätzen die ruhige Lage der Stadt, die Weinberge, die Weinhänge, die Nähe zur Autobahn und zum Flughafen. "Wichtig ist auch die Frage, gibt es gute Hotels, wo ich Geschäftspartner unterbringen kann und die ist eindeutig mit 'Ja' zu beantworten." Meißen, gibt sie zu bedenken, habe zwar auch Weinhänge und schöne Villen. "Aber Meißen ist zu weit raus." Radebeul, der Weiße Hirsch, die Dresdner Stadtteile Striesen und Blasewitz - hier wohnen die Menschen, die es sich leisten können.
Mehr als 300 Villen
Viele Einheimische sind auf die Zugezogenen schlecht zu sprechen. Ältere Radebeuler berichten über dreiste Immobilienmakler, die gutgläubige Rentner übers Ohr gehauen haben. Viele Filetgrundstücke und -immobilien wechselten die Besitzer, was heute bedauert wird. Das vergisst man hier nicht so schnell. Eine ältere Dame aus dem Ortsteil Zitzschewig beispielsweise kann immer noch nicht verstehen, warum das Hohenhaus nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Bis vor einigen Jahren war dort die Puppentheatersammlung untergebracht. Einmal im Jahr zum Puppentheaterfest war der urige Garten voller Kinder. Jetzt ist das Anwesen im Privatbesitz, Spaziergänger sind unerwünscht. Mehr als 300 Villen stehen auf der Liste der Kulturdenkmale Radebeul - ein Großteil von ihnen wurde durch die umtriebigen Ziller-Brüder errichtet.
"Radebeul ist eine Schlafstadt für Besserverdienende"
Im Unternehmernetzwerk BNI spielt Radebeul als Wirtschaftsstandort eine untergeordnete Rolle. Für Jens Fiedler, Leiter der BNI-Gruppe Südost, ist Radebeul eine "Schlafstadt für besserverdienende Angestellte und Unternehmer, deren Geschäfte gut gehen". Wenn er unterwegs ist, sei vielen Unternehmern Dresden ein Begriff, Radebeul aber nicht. "Dresden ist ein Magnet."
Auch Fiedler glaubt nicht, dass Radebeul eine Stadt der Millionäre ist. Viele von denen man glaubt, sie seien welche, hätten in Immobilien oder ihre Unternehmen investiert. Erst bei einem möglichen Verkauf würde diese Summe sichtbar werden. "Was die Immobilien angeht, ist Radebeul schon eine Stadt der Millionäre. Sanierte Immobilien erzielen inzwischen fast siebenstellige Beträge." Menschen mit "einer vernünftigen Anstellung" würden aber jetzt auch noch fündig. "Eine Zeit lang wird es noch bezahlbar bleiben."
Fiedler, der Dresden und Radebeul seit Kindertagen kennt, weiß aber auch von alteingesessenen Unternehmern, die sich in der neuen Zeit gut behauptet haben. "Ich denke da an die Bäckerei Dolze oder Reifen-Hammer." Den Erfolg des viel zitierten Autohauses Thomas - hier werden Ferrari, Rolles-Royces oder Maserati verkauft - sieht Netzwerker Fiedler ganz nüchtern. "Diese Kompetenz hat im Umkreis von 300 Kilometern niemand. Die Kundschaft ist keineswegs nur aus Radebeul und Dresden, es kommen auch viele Käufer und Kunden aus Polen und Tschechien." Mit der Eröffnung der Harley-Davidson-Filiale auf der anderen Straßenseite habe Autohauschefin Sibylle Thomas-Göbelbecker alles richtig gemacht. "Der Bedarf ist da, viele Unternehmer haben eine Harley in der Garage stehen." Harley ist eben ein Lebensgefühl, ebenso wie die versteckten Weinlokale in den Radebeuler Weinhängen.
"Es ist vor allem der Reiz der Weinberge, der die Leute anzieht", bringt Mathilda Bengen die Attraktivität Radebeuls auf einen Punkt. "Ich würde mir allerdings noch ein paar Geschäfte wünschen - mit schönen Schuhen oder Boutiquen."
Wo leben Sachsens Millionäre?
Landkreis/kreisfreie Stadt | Anzahl der Millionäre |
---|---|
Chemnitz, Stadt | 7 |
Erzgebirgskreis | 3 |
Mittelsachsen | 9 |
Vogtlandkreis | 3 |
Zwickau | 3 |
Dresden, Stadt | 25 |
Bautzen | 8 |
Görlitz | 8 |
Meißen | 8 |
Sächs. Schweiz/Osterzg. | 4 |
Leipzig, Stadt | 17 |
Leipzig | 9 |
Nordsachsen | 4 |
Gesamt: | 108 |
* Quelle: Finanzministerium Sachsen
* Das höchste zu versteuernde Einkommen betrug 2012 rund 15,5 Millionen Euro.
Woher stammen die Millionen?
Einkunftsart | Anteil in Prozent |
---|---|
Gewerbebetrieb | 54,1 |
Nichtselbstständige Arbeit (Bruttolohn) | 19,7 |
Selbstständige Arbeit (Freiberufler) | 18,5 |
Kapitalvermögen | 6,0 |
Sonstige (Forstwirtschaft/Vermietung/Verpachtung) | 1,7 |
* Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen
Durchschnittliche Einkünfte je Millionär 1992-2007
- 1992: 0,8 Millionen Euro
- 1995: 0,8 Millionen Euro
- 1998: 1,9 Millionen Euro
- 2001: 1,7 Millionen Euro
- 2004: 1,8 Millionen Euro
- 2007: 1,9 Millionen Euro
* Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen
Radebeul
* aktuelle Einwohnerzahl: 33.280 (Dezember 2012)
* 1349 erste urkundliche Erwähnung des Dorfes Radebeul
* 1727-1729 - Landsitz Wackerbarth wird errichtet
* 1884 - die Schmalspurbahnstrecke Radebeul-Radeburg wird eingeweiht
* 1928 - ERöffnung des Karl-May-Museums
* 1935 - Radebeul und Kötzschenbroda schließen sich zur Stadt Radebeul zusammen
Deckungsmittel Deckungsmittel sind finanzielle Mittel, die eine Kommune zur Verfügung hat, um Ausgaben zu finanzieren. Sie setzen sich hauptsächlich aus Steuern und allgemeinen Zuweisungen, aber auch aus Krediten zusammen. Die allgemeinen Deckungsmittel sind nicht zweckgebunden.