Der Politikwissenschaftler Kestutis Girnius hält die Angst der Litauer vor einem russischen Angriff für übertrieben.
Der Politikwissenschaftler Kestutis Girnius hält die Angst der Litauer vor einem russischen Angriff für übertrieben. Bildrechte: delfi.lt

"Eine russische Invasion ist sehr unwahrscheinlich"

11. März 2018, 22:22 Uhr

Litauen hat seit der Ukraine-Krise Angst, vom Kreml ins Visier genommen zu werden. Eine Angst, die vor allem von den Medien und der litauischen Politik erzeugt wird, meint der Politikwissenschaftler Kęstutis Girnius. 

Heute im Osten: Steht Litauen eine russische Invasion bevor?

Kęstutis Girnius: Meiner Meinung nach, ist diese Gefahr sehr gering, denn Litauen ist Mitglied der NATO. Und wenn Russland Litauen angreifen würde, würde die NATO nicht nur Litauen, sondern auch sich selbst verteidigen. Immer mehr Menschen schätzen diese Bedrohung als sehr gering ein. Die neuesten Umfragen zeigen, dass nur 18 Prozent der Befragten Angst vor einer russischen Invasion haben.

Aber es gibt auch andere aktuelle Umfragen vom Auswärtigen Amt, die sagen, dass 65 Prozent der befragten Litauer Russland als unfreundlich, gar bedrohlich empfinden.

Das sind aber zwei verschiedene Dinge. Ich bin auch überzeugt, dass Russland uns gegenüber unfreundlich ist und bei jeder Gelegenheit versucht, uns Steine in den Weg zu legen. Es gibt viele Möglichkeiten, uns zu schädigen, aber das ist immer noch was anderes als militärische Handlungen. Ich bin überzeugt, dass Russland militärisch nicht angreifen wird. Es gab auch die Ängste vor dem Informationskrieg, die sich als übertrieben herausgestellt haben.

Was macht Russland denn, was den Litauern Angst macht?

Der Hauptgrund ist nach wie vor die Okkupation der Krim und die anhaltende Aggression, wie die separatistischen Kämpfe in der Ostukraine. Die zweite wichtige Rolle spielen die litauischen Medien, die Präsidentin und andere Politiker, die diese Gefahr ständig betonen. Im letzten Jahr hat man ununterbrochen über die militärischen Übungen Zapad 2017 geredet, die Russland in Belarus veranstaltet hat. Es werden 100.000 Soldaten kommen und es könne sein, dass sie da auch bleiben, hieß es ständig.

Man fokussierte sich auf die Suwalki-Lücke, den schmalen Korridor zwischen Kaliningrad und Belarus, den man schnell abgrenzen könnte. Aber es ist nichts passiert. Trotzdem, wenn so viel darüber geredet wird, erzielt das eine gewisse Wirkung. Ein anderes Beispiel – es wird jede Woche berichtet, wie viele russische Flugzeuge den litauischen Luftraum verletzen und wie oft die Luftpolizei, die NATO-Kampfjets aufsteigen müssen.

Ist das ein speziell litauisches Phänomen? Schließlich sind Estland und Lettland in dieser Logik genauso bedroht.

Ich glaube, unsere Politiker reden teilweise schon aus Routine so. Ich habe manchmal das Gefühl, dass unser Außenminister Linas Linkevičius am Sonntag nicht einschlafen kann, wenn er in der Woche nicht mindestens einmal Kritik an Russland geübt hat. Das finde ich etwas übertrieben. Mir gefällt das Verhalten von Estland besser. Die denken zwar genauso wie Litauen, äußern es aber nicht so oft.

Nutzen die litauischen Politiker die Angst der Menschen aus, um bestimmte Ziele zu erreichen?

Ich würde das nicht als ein Spiel mit den Emotionen der Menschen bezeichnen, da die Angst dieser Leute wirklich vom Herzen kommt. Aber das Verhalten der Politiker hat natürlich reale Auswirkungen. Litauen hat zum Beispiel 2008 die Wehrplicht abgeschafft und eine professionelle Armee eingeführt, aber jetzt haben wir die Wehrpflicht zurück und man redet sogar davon, sie auszuweiten.

Die letzten Umfragen zeigen, dass 90 Prozent der Befragten diese Idee unterstützen. Es geht eigentlich nur noch darum, ob sie nur Männer oder auch Frauen betreffen soll. Das hat eine Wirkung auf die Stimmung in der Gesellschaft. Genauso, wenn es um Verteidigungsausgaben geht. Jetzt ist das Budget dafür von einem auf über zwei Prozent gestiegen und wir erfüllen vorbildlich die Verpflichtungen für die NATO.

Und jetzt kommen Stimmen in der Politik auf, die die Ausgaben sogar auf 2,5 Prozent erhöhen wollen. Das ist eine riesige Summe und es ist fraglich, wie sinnvoll das ist. Denn eigentlich haben die Menschen hier andere Sorgen als die Kriegsgefahr. Eine alternde Gesellschaft, die Emigration und die soziale Ungleichheit. Wenn wir noch mehr Geld für die Verteidigung ausgeben, wird es nur noch schwieriger, diese Probleme zu bekämpfen.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: HEUTE IM OSTEN: Reportage | 17.03.2018 | 18:00 Uhr