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"Ungleich Vereint" von Steffen Mau thematisiert die fortbestehenden ost-westdeutschen Unterschiede und sieht in Bürgerräten einen Weg, Unzufriedenheit entgegenzuwirken. Bettina Baltschev stellt das Buch vor. Bildrechte: IMAGO/photothek

"Ungleich Vereint" Neues Buch: Der Osten ist anders – und das ist okay

20. Juni 2024, 13:19 Uhr

Der Soziologe Steffen Mau schreibt in seinem neuen Buch "Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt" darüber, warum man Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland respektieren sollte. Während für viele Westdeutsche die Wiedervereinigung längst abgeschlossen scheint, wird das im Osten häufig nicht so gesehen. Als Lösungsansatz für Unzufriedenheit bringt Mau Bürgerräte als Form direkter Demokratie ins Spiel.

Das Wahlergebnis der Europawahl hat einmal mehr deutlich gemacht, dass die deutsche Einheit 1990 zwar auf dem Papier vollendet wurde, dass die Wirklichkeit aber auch 34 Jahre später noch anders aussieht. Der Bedarf an deutsch-deutschen Erklärungsversuchen ist weiterhin groß.

Steffen Mau, Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt, Buch,Cover
Bildrechte: Suhrkamp Verlag

Nun legt der Soziologe Steffen Mau mit "Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt" ein Buch vor, das sich damit beschäftigt, wie sich das kulturelle und politische Selbstverständnis in Ost und West unterscheidet und welche Konsequenzen man daraus ziehen muss.

Irrtümer der Wiedervereinigung

Als Willy Brandt am 10. November 1989 den Satz "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört" ausspricht, ist die Zuversicht groß, die deutsche Einheit würde schnell und reibungslos verlaufen. Dass es nicht so kommt, merken die Deutschen in Ost und West schnell. Trotzdem ist die Zielstellung klar: Einheit.

Eine Familie hält begeistert viele D-Mark-Geldscheine in die Kamera, ein Kind schaut nicht so begeistert.
Auf die anfängliche Freude über die Wiedervereinigung folgte für viele Menschen Ernüchterung. Dennoch steht die Einheit selbst bis heute nicht zur Disposition. Bildrechte: imago/Ulrich Hässler

Doch nun, 35 Jahre später, räumt ein schmales Taschenbuch mit liebgewordenen Erwartungen auf. Der Autor Steffen Mau gibt sich bescheiden und nennt sein Buch eine "kleine politische Schrift zu Gesellschaft, Politik und Demokratie in Ostdeutschland".

Der Autor Steffen Mau (Zum Aufklappen)

Ein Mann mit Brille
Steffen Mau Bildrechte: Marten Koerner

1968 in Rostock geboren, ist Steffen Mau Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat sich in den letzten Jahren immer wieder mit klugen Büchern über die Nachwirkungen der Wiedervereinigung einen Namen gemacht hat. In "Lütten Klein" hat er das Rostocker Neubaugebiet in den Blick genommen, in dem er selber aufgewachsen ist. In "Triggerpunkte", das er mit Thomas Lau und Linus Westheuser geschrieben hat, stellt er die Frage, ob unsere Gesellschaft wirklich so gespalten ist, wie es oft behauptet wird.

Aber schmal und klein sind seine Ansichten ganz und gar nicht. Denn Mau widerspricht den jahrzehntelangen Bemühungen, den Osten auf Westniveau zu bringen – vor allem wirtschaftlich, aber auch sozial, kulturell und politisch.

Das macht der Soziologe so überzeugend, dass man sich während der Lektüre fragt, wieso dieses Buch erst jetzt geschrieben wurde. Wäre es früher erschienen, hätte es dem Land einige Missverständnisse und Enttäuschungen erspart.

Hartnäckige Ungleichheit

Mau stellt fest, dass der Glaubenssatz, es müsse zusammenwachsen, was zusammengehört, genau jene Unterschiede überdeckt, die sich aus der geteilten Geschichte der DDR und der BRD ergeben und die sich in den letzten Jahrzehnten verfestigt haben. Mau spricht von "asymmetrischen Vorbedingungen der Wiedervereinigung", die sich zu "hartnäckigen Ungleichheitsverhältnissen" ausgewachsen hätten. Dazu seien "postsozialistische Dynamiken" gekommen, die ebenfalls nicht zur Einheit beigetragen hätten, man denke zum Beispiel an die Treuhand oder das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung.

Natürlich sind das bekannte Fakten. Dass Mau nun aber vorschlägt, diese Ungleichheit zu akzeptieren und sogar anzuerkennen, hat einen entlastenden, fast therapeutischen Effekt. Weil man sich nämlich – statt immer darauf zu warten, dass der Osten endlich so wird wie der Westen – auf dessen Eigenheiten und Problemlagen konzentrieren und entsprechend darauf reagieren kann.

Eigenes Verständnis von Demokratie

Mau geht zudem davon aus, dass wir weder hoffen oder glauben müssen, dass sich diese Eigenheiten und Problemlagen in nächster Zeit von selber lösen. Im Gegenteil, sie werden sich noch zuspitzen.

Das Wahlverhalten und die politische Landschaft betrachtend, erkennt der Autor zwischen Zittau und Kap Arkona ein aus der Erfahrung gewachsenes anderes Verständnis von Demokratie als im Westen. Ein Verständnis, das den staatlichen Institutionen tendenziell misstraut oder, etwas freundlicher ausgedrückt, das skeptischer und schwerer zu überzeugen ist. Stattdessen gäbe es viele Anhänger direkter Demokratie, die sich unter anderem auf der Straße zeige, in Form von Demos und Postern.

Viele Menschen bei einer Demonstration. Auf einem Schild steht u.a. "Lieber blau machen als blau wählen. Keine Stimme f. AfD"
Demonstration gegen Rechtsextremismus unter dem Motto "Zusammen gegen Rechts", initiiert vom Aktionsnetzwerk "Leipzig nimmt Platz". Bildrechte: picture alliance / dpa | Kirsten Nijhof

Dass hier vor allem rechte Kräfte zum Zuge kommen und vor allem im ländlichen Raum, habe auch demografische Gründe. Denn gerade dort fehlten vielerorts die mäßigenden Frauen. Mau gibt dafür ein Beispiel: im Ilm-Kreis kommen auf 100 Frauen 140 Männer, was offensichtlich die Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens erhöhe und das Wahlergebnis einer Männerpartei wie der AfD in die Höhe schnellen lasse. Aber, das betont Mau, auch ein Wahlergebnis von 30 Prozent spiegele keine Mehrheit der Bevölkerung wider, besonders wenn die Wahlbeteiligung eher gering ist.

Starke Ost-Identität

Anders als der Autor Dirk Oschmann, der den Osten für eine Erfindung des Westens hält, erkennt Mau, dass der Westen viel weniger am Osten interessiert sei, als diesem lieb ist. Was unter anderem damit zusammenhänge, dass es so etwas wie eine westdeutsche Identität gar nicht gebe. Stattdessen würde man sich eher mit seinem Bundesland identifizieren.

Ossi-Power steht auf der Heckscheibe eines Trabanten geschrieben.
Ihre Ostdeutsche Identität ist vielen Menschen wichtig, auch noch in der nach der Wende geborenen Generation. Bildrechte: imago/Steinach

Deshalb hätten auch viele Leute im Westen die deutsche Wiedervereinigung längst mit dem Stempel "abgeschlossen" ins Archiv gebracht. Das wiederum irritiere viele Ostdeutsche und würde deren Ost-Identität sogar noch stärken, sogar bei der jüngeren Generation, die den Mauerfall selbst nicht mehr miterlebt hat.

Die Ostdeutschen wollen mitreden

Mau schreibt verständlich und eindrücklich über ein komplexes und brisantes Thema und benutzt dabei einige eingängige Begriffe, die man sich gerne merkt: darunter "innerdeutsche Phantomgrenze" oder "zivilgesellschaftliche Formschwäche".

Gegen diese ostdeutsche Eigenheit bringt er am Ende seines Buches Bürgerräte ins Spiel. Sie seien eine Form direkter Demokratie, die im Osten Deutschlands besonders gut funktionieren könnte, denn die Ostdeutschen wollen sehr gern mitreden. Man müsse sie nur lassen und vor allem nicht den rechtsextremen Bauerfängern überlassen.

Eine Straße mit älteren Häusern und Bäumen.
Wer die Orte nicht kennt, kann heute häufig Ost- und Weststädte nur schwer unterscheiden. Bildrechte: MDR/Michael Rosebrock

"Ungleich Vereint. Warum der Osten anders bleibt" ist ein aufschlussreiches, kluges Buch, das seinen Lesern einen frischen Blick auf festgefahrene Diskussionen liefert und genau das tut, was es fordert: den Osten mit seinen Eigenheiten akzeptieren und respektieren.

Quelle: MDR KULTUR (Bettina Baltschev)
Redaktionelle Bearbeitung: op

Informationen zum Buch

Steffen Mau: "Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt"
168 Seiten, 18 Euro
ISBN 9783518029893
Suhrkamp Verlag

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 19. Juni 2024 | 08:10 Uhr

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