Polizisten stehen an einem Einsatzort, der möglichwerweise im Zusammenhang mit der Attacke in Wolmirstedt steht.
In Wolmirstedt hatten Polizisten einen 27-Jährigen Messer-Angreifer erschossen. Bildrechte: picture alliance/dpa | Thomas Schulz

Tödliche Polizeischüsse Wolmirstedt: Offene Fragen nach Obduktion des Messer-Angreifers

24. Juni 2024, 16:15 Uhr

Aus der Obduktion des Täters von Wolmirstedt ergeben sich Fragen zum Schusswaffengebrauch der Polizei. Mindestens einer der drei Treffer war tödlich, heißt es aus der Gerichtsmedizin. Einsatzkräfte sind jedoch eigentlich gehalten, Angreifer nur fluchtunfähig zu machen, nicht aber zu töten. Laut einem Polizeiexperten werden Beamte auf brenzlige Situationen aber zu einseitig vorbereitet. Taser hält er dennoch nicht für die richtige Alternative zur Schusswaffe.

Die Schüsse gegen den Messer-Angreifer von Wolmirstedt haben diesen im oberen Halsbereich, im Oberkörper sowie im Lendenbereich getroffen. Mindestens einer der Treffer soll tödlich gewesen sein. Das ist nach Informationen von MDR SACHSEN-ANHALT ein Ergebnis der Obduktion des 27-jährigen Afghanen, der Mitte Juni erst einen Landsmann mit einem Messer getötet und danach drei Menschen bei einer EM-Gartenparty teils schwer verletzt hatte, bevor ihn die Polizei schließlich erschoss.

Schüsse gegen Kopf und Oberkörper eigentlich tabu

Ob die Schüsse jedoch notwendig und angemessen platziert waren, dazu ermittelt nun die Staatsanwaltschaft Magdeburg gegen die Beamten, die die drei Schüsse abgegeben haben. Zum Obduktionsergebnis wollte sich die Staatsanwaltschaft auf Nachfrage von MDR SACHSEN-ANHALT bislang nicht äußern.

Im Gesetz ist der Schusswaffengebrauch klar geregelt und deutlich eingeschränkt: "Schusswaffen dürfen gegen Personen nur gebraucht werden, um angriffs- oder fluchtunfähig zu machen", heißt es im Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt. Ein Schuss auf die Beine dürfte demnach beispielsweise den genannten Zweck erfüllen. Ein Schuss, der mit "an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" tödlich wirkt – etwa in den Kopf oder die Brust –, ist dagegen nur bei Lebensgefahr oder der Gefahr schwerwiegender Verletzungen zulässig.

Polizeiexperte kritisiert vorschnellen und unnötigen Schusswaffeneinsatz

Für den Polizeiexperten Rafael Behr wird in Deutschland häufig vorschnell und unnötigerweise zur Waffe gegriffen. Ein falscher Fokus in der Ausbildung und beim Training könnte aus seiner Sicht der Grund dafür sein.

Ein Foto von einem Mann in Anzug mit Brille
Rafael Behr, emeritierter Professor für Polizeiwissenschaften Bildrechte: MDR/Johanna Hemkentokrax

Behr ist emeritierter Professor für Polizeiwissenschaften an der Akademie der Polizei in Hamburg und Dozent an den Universitäten Hamburg und Bochum für Kriminologie und Polizeiwissenschaften sowie ehemaliger Polizeibeamter. Er kritisiert, dass Polizeibeamte vor allem für Szenarien fit gemacht würden, in denen Täter sofort ausgeschaltet werden müssten: "Das Problem ist, dass häufig der Gefahrenbegriff überreizt wird und man Dinge trainiert, die in Wirklichkeit gar nicht so vorkommen."

Ruhigere Lagen, in denen man reden, sich zurückhalten oder ruhiger auftreten könne, würden dagegen weitaus weniger geübt und trainiert als die hektischen Lagen, in denen es ganz schnell gehen müsse.

Hohe Belastung für Beamte, auch nach dem Schusswaffeneinsatz

Für Behr ist es wichtig, dass Beamte lernen, gefährliche Situationen von Situationen zu unterscheiden, die aus einer Notlage des Gegenübers entstehen. "Mich wundert sehr, dass an dieser Stelle überhaupt keine Anstrengungen unternommen werden, alternative Einsatzformen zu entwickeln." Aus seiner Sicht müssten Polizeibeamte im Umgang mit Menschen in psychischen Erregungssituationen besser geschult werden.

Der Polizeiexperte gibt ebenfalls zu bedenken, dass ein Gebrauch der Dienstwaffe auch für die Beamten schwere psychische Auswirkungen haben kann. "In der Regel ist es so, dass die Sofortunterstützung läuft, aber dann wird klar, dass mittelfristig und langfristig der Schock tiefer sitzt." So gebe es Berichte über Flashbacks nach vielen Jahren, durch die Beamte dienstuntauglich werden.

"Bessere Dokumentation durch Bodycams nötig"

Ob ein Schusswaffengebrauch am Ende rechtmäßig war, darüber entscheidet auch der Bericht der Beamten im Nachgang. Hier sagt Behr, ist der Eindruck naturgemäß durch die Beamten nicht objektiv. Der Polizeiexperte wünscht sich deshalb, dass die Bodycam beim Ziehen der Waffe automatisiert ausgelöst wird.

"Dann hätten wir einen Schutz auch für die Polizeibeamten, aber vor allen Dingen einen Schutz der Rechtsordnung und müssten nicht darauf vertrauen, dass die Beamten, die möglicherweise ja auch in einem Ausnahmezustand geraten und geschockt sind, die absolute objektive Wahrheit sagen", so der Experte.

Experte: Taser keine echte Alternative

Als Alternative zur Schusswaffe werden immer wieder auch Elektroschocker, sogenannte Taser, diskutiert. Diese Diskussion sieht Behr kritisch: "Man ist mittlerweile, glaube ich, auch schon lange davon weg, denn es hat sich erwiesen, dass in vielen Fällen dieses Elektro-Impulsgerät gar nicht die Wirkung erzeugt, die es erzeugen soll." Zum Beispiel wenn sich ein Mensch wegbewege oder er zu viele Kleider anhabe, seien Taser oft nicht wirksam.

Menschen stoppen, nicht töten

Stattdessen plädiert der Experte für die Entwicklung von Waffen jenseits des Tasers. So gebe es technische, chemische und physikalische Möglichkeiten, Menschen sofort in einen Ruhezustand zu versetzen.

Dass es überhaupt keine Anstrengungen gebe, die Polizei mit solchen "Mannstoppmitteln" auszustatten, überrasche ihn, so Behr: "Wenn man etwas lernen will, dann könnte man in diese Richtung forschen und Mittel erfinden, die Menschen stoppen, aber nicht töten."

MDR (Lars Frohmüller, Daniel Salpius) / Erstmals veröffentlicht am 21. Juni 2024

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 21. Juni 2024 | 16:00 Uhr

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