Ein historischer Schaufelraddampfer wendet auf der Elbe vor der Brücke Blaues Wunder.
Der Blick von den Elbhängen in Dresden-Loschwitz ist phänomenal. Die Loschwitzer haben ihn auch vom Wohnzimmer. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Robert Michael

Armut und Reichtum Sorgenfrei in Dresden-Loschwitz: "Die gucken nicht so auf das Geld"

07. April 2024, 13:28 Uhr

Die Ballung von Armut - aber auch Reichtum - nimmt immer mehr zu. Das hat der Soziologe Marcel Helbig in seiner Studie "Hinter den Fassaden" herausgefunden. Was bedeutet das, wenn arme und wohlhabende Menschen zunehmend separiert leben und sich immer weniger über den Weg laufen? Nachdem wir im Neubaugebiet in Dresden-Gorbitz unterwegs waren, fahren wir auf den Weißen Hirsch nach Dresden-Loschwitz.

Einmal richtig reich fühlen, zumindest in Gedanken. Wer das möchte, kann in Dresden mit dem Fahrrad nach Loschwitz radeln, die romantische Standseilbahn besteigen und eine beeindruckende Villa nach der anderen betrachten. Das Villenviertel "Weißer Hirsch" in Loschwitz gilt als einer der wohlhabendsten Stadtteile Dresdens.

Elbwiesen
Mit dem Fahrrad entspannt Richtung Loschwitz radeln - fühlt sich fast wie Urlaub an. (Archivbild) Bildrechte: imago images/Sylvio Dittrich

Hier haben schon immer Eliten gewohnt. Hier stehen kleine Schlösser. Hier ist es romantisch, alles wuchert, alles grün und fügt sich pittoresk. Hier scheinen alle glücklich. Selbst angereister Besuch lässt sich immer wieder gehörig beeindrucken. Wer das Gefühl haben möchte, die Welt ist heil und unberührt und wird es für immer bleiben, der braucht nur dem Elbhang einen Besuch abzustatten.

Zwei Standseilbahnen fahren auf den Schienen in Dresden.
Die Standseilbahn ist eine Möglichkeit, die Elbhänge zu erklimmen - gute Aussicht garantiert. (Archivbild) Bildrechte: DVB

Mit der Straßenbahn den Berg erklimmen

Da die Zeit knapp und meine körperliche Vitalität durch die letzte Spätschicht beeinträchtigt ist, entscheide ich mich für die Straßenbahn. Fest steht, der "Weiße Hirsch" bleibt für Nichtautofahrer eine Challenge. Die bequemste Variante auf das Plateau der Elbhänge zu gelangen, ist die Straßenbahn. Es gibt steile und sehr steile Wege, die sich mit alten Kopfsteinpflaster bespickt wie in Südfrankreich an verträumten Häusern und berauschenden Gärten entlangschlängeln, doch dafür bleibt heute keine Zeit.

Ein Handwerker führt Arbeiten an einer Schwebebahn durch. Im Hintergrund Ein Flussbett mit Brücke und Stadt.
Nicht nur die Standseilbahn, auch die Schwebebahn bietet einen fantastischen Blick von den Elbhängen über die Stadt. (Archivbild) Bildrechte: picture alliance / Arno Burgi/dpa-Zentralbild/ZB | Arno Burgi

Weil an der Bautzner Straße gebaut wird, fahren im Ersatzverkehr Busse. Neben mir steht ein ukrainisches Paar mit Kinderwagen, auf der Vierer-Sitzgruppe gegenüber wippt ein Mann mit kurzer Armeehose mit den Beinen, irgendwie riecht es nach Schweiß. Keine Dame mit Pelz, kein Herr mit Anzug, keine Passagiere mir auffälligen Markenklamotten. Hier macht nichts den Eindruck, als fahre ich in ein besonders privilegiertes Viertel.

Parkhotel in Dresden Weißer Hirsch
Das Parkhotel veranstaltet gleißende Partys in luxuriösen Ballsälen. (Archivbild) Bildrechte: imago images/Joko

Der Glanz der 1920er-Jahre

Erste Station auf dem Berg: Plattleite. Ich steige aus. Schon jetzt ist es irgendwie magisch. Das Parkhotel auf dem "Weißen Hirsch" strahlt alten Glanz aus. Erst kürzlich war ich hier zum Swing-Tanzen. Mit Live-Band. Wie in Babylon Berlin. Wie die 1920er-Jahre der Wohlhabenden, versteht sich. Obwohl ich mit dem schmalen 20-Euro-Schein die Sektgläser genau zählte und am Ende den Berg hinunter in mein bescheidenes Viertel zurückfuhr.

Außenansicht eines Hauses mit davor parkenden Autos
Der Kurort "Weißer Hirsch" wurde 1921 zwangseingemeindet und gehört seitdem zu Dresden - hier das um die Jahrhundertwende gebaute Gemeindeamt. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Plausch am Markt

Ich gehe zum Marktplatz, dem Zentrum von Loschwitz. Neben mir hält eine nette, gut aussehende und gepflegte Frau in einem leichten schwarz-creme-gemusterten Hemd. Kommen Sie von hier? "Nein, ich arbeite hier als Friseurin", sagt sie und lacht. "Eine Wohnung könnte ich mir hier oben überhaupt nicht leisten." Sie sagt das ohne Groll und ohne Neid. "Ehrlich gesagt, könnte ich mir allein mit meinem Friseurinnen-Gehalt nirgends eine Wohnung leisten."

Linda scheut sich, ihren richtigen Namen zu nennen, sie möchte nicht erkannt werden. Weil sie geheiratet hat, lebt sie mit ihrem Mann in einem Haus. "Eingeheiratet", erklärt sie. "Finanzielle Nöte habe ich nicht. Doch wenn ich mich scheiden lassen wollen würde, hätte ich ein Problem." Die 53-Jährige wirkt nicht unglücklich, eher im Gegenteil. Über Geld und ihre gesellschaftliche Position scheint sie sich jedenfalls schon reflektiert zu haben.

Ein Blumenstand auf einem Marktplatz
Kein Massenandrang, doch dafür alles ganz entspannt. In Loschwitz kann jeder gemütlich mit den Händlern plaudern. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Friseurin arbeitet zum Mindestlohn

Ich muss stocken, so viel Frohsinn und Realismus zusammen. Sie bekommen Mindestlohn? "Ja, mehr aber auch nicht." Ein Friseurbesuch hier ist sicher preisintensiv. Werden die Gehälter nicht angepasst? "Es ist alles teurer geworden, die Kosten müssen gezahlt werden", erklärt sie.

Es gibt so viele fleißige, genügsame Mitarbeiter. Wenn ich so etwas höre, werde ich immer ein bisschen wütend. Die Rechnung "gut situiertes Viertel zahlt gut situierte Löhne" scheint hier erst einmal nicht aufzugehen. Linda rudert zurück. "Im Vergleich zu anderen Stadtvierteln ist das Trinkgeld sehr gut. Weil wir hier oben anders leben."

Blick auf den Dresdner Villenstadtteil Loschwitz und Oberloschwitz mit Luisenhof (r) und der Sternwarte der Ardenne-Villa von der Elbwiese aus gesehen.
An den Dresdner Elbhängen verteilen sich die Villen aller Art. Jede ist für sich spektakulär. (Archivbild) Bildrechte: picture alliance / zb | Thomas Scholz

Wie leben die Menschen auf dem Weißen Hirsch?

Linda liebt ihren Beruf und findet es schade, dass die Kunst des Haareschneidens niedrig bewertet wird – obwohl alle gut aussehen und eine schöne Frisur haben wollen. Als sie noch alleinerziehend mit Kind war und es keinen Mindestlohn gab, musste sie ihr Gehalt mit Sozialleistungen aufstocken. "Das darf nicht sein", sagt sie. Stimmt, denke ich, letztlich subventionieren Unternehmer ihren wirtschaftlichen Betrieb ja so mit sozialen Leistungen des Staates. Aber das ist ein anderes Thema.

Linda, wie erleben Sie die Menschen hier oben auf dem Weißen Hirsch? "Die gucken nicht so auf das Geld", sagt sie. "Das merkt man schon. Der Konsum ist hier der teuerste, den ich in der Stadt kenne. Wenn besonders junge Menschen ihre Einkaufskörbe ganz vollpacken, frage ich mich, wie sie sich das leisten können."

Stress und Urlaubswünsche

Linda überlegt, wie erlebt sie die Menschen: "Viele sind gestresst", erzählt sie. "Sie erzählen mir, wie wichtig ihnen der Urlaub ist und ihre 36 Tage nicht reichen." Linda muss wieder lachen. Und Sie, wie viel Tage Urlaub haben Sie, frage ich. "22 Tage", antwortet sie sofort. Sie ist ein sehr ausgeglichener Charakter.

Loschwitz ist nicht "nur" ein Villenviertel, es gehört auch zu den Dresdner Stadtteilen mit dem höchsten Netto-Äquivalenzeinkommen, also dem höchsten Netto-Einkommen abhängig von Haushaltsgröße und -zusammensetzung. Wie übrigens alle Stadtteile hier oben: Bühlau, Pappritz.

Treppenaufgang eines Hauses
Während in Gorbitz in der Nachbarschaft das Sozialkaufhaus öffnet, bieten in Loschwitz elegante Läden ihre Waren feil. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

23 Einkommensmillionäre in Dresden

Doch auch in Blasewitz, Striesen, der Dresdner Neustadt und Dresden-Klotzsche verdienen die Menschen nach Ergebnissen der kommunalen Bürgerumfrage aus dem Jahr 2022 mehr als 2.200 Euro pro Monat. Das ist jedoch längst nicht die Obergrenze in Dresden. Nach einer kleinen Anfrage der Linken-Landtagsabgeordneten Susanne Schaper gaben 23 Dresdner in ihrer Steuererklärung für 2021 an, siebenstellig zu verdienen. Wo sie wohnen, geht aus der Anfrage nicht hervor.

Straßenansicht mit Häusern auf beiden Seiten
Loschwitz erlebte seine Blüte um die Jahrhundertzeit, viele Unternehmer und Künstler siedelten sich an. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Kaum noch arme Menschen

Zurück nach Loschwitz: Nirgends in Dresden ist demnach die Zahl der Sozialleistungsempfänger mit 40 gemeldeten Bedürftigen niedriger als in Loschwitz, Ausnahme ist Gompitz/Altfranken (35) auf dem Meißner Hochland am anderen Ende der Stadt. Die Wohlhabenden bleiben hier unter sich. Reich zu reich und arm zu arm – ist das eine Gesetzmäßigkeit?

Marcel Helbig
Marcel Helbig ist Professor für Bildung und soziale Ungleichheit an der Uni Erfurt und am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin. Bildrechte: picture alliance/dpa | Bernhard Ludewig

Laut Soziologe Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung wird die Ballung von Reichtum und Armut besonders in Ostdeutschland immer größer. Das liegt jedoch weniger daran, dass es immer mehr Arme gibt (Armut ist insgesamt laut seiner Studie "Hinter den Fassaden" zurückgegangen), sondern daran, dass einkommensschwächere Menschen und Sozialhilfeempfänger aus wohlhabenden Quartieren verdrängt werden.

"Die gestiegene Armutssegregation in ostdeutschen Städten ist vor allem auf den steigenden Anteil von Quartieren zurückzuführen, in denen kaum noch arme Menschen wohnen, und nicht auf einen steigenden Anteil von Personen in armen Quartieren", erklärt Helbig.

Die gestiegene Armutssegregation in ostdeutschen Städten ist vor allem auf den steigenden Anteil von Quartieren zurückzuführen, in denen kaum noch arme Menschen wohnen.

Marcel Helbig Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Manche Loschwitzer können sich die Sanierung der Häuser nicht leisten

Das deckt sich mit den Ausführungen des Blumenhändlers Steffen, den ich auf dem Markt treffe. "Selbst auf dem Weißen Hirsch gibt es Leute, die sich die Sanierung ihrer Häuser nicht leisten können", erklärt er. Der Denkmalschutz mache diese enorm teuer. Nicht wenige müssten verkaufen. "Auf dem Weißen Hirsch ein Haus zu haben, ist mehr eine Last", erklärt Steffen.

Das würde vielleicht nicht jeder so unterschreiben, doch seine Argumente geben interessante Einblicke. "Mit einem normalen Gehalt können sie sich ein Haus auf dem Weißen Hirsch nicht finanzieren." Der Blumenhändler hat Eigenheim-Expertise, er lebt mit seiner Familie selbst in einem Haus – in Kesselsdorf.

Stichprobe bei Immoscout: Eine bezugsfertige Villa mit 737 Quadratmeter Wohnfläche ist in Loschwitz für 2,5 Millionen Euro zu haben. Doch es geht auch "günstiger": Ein Wohnvilla mit Fachwerk kostet 830.000 Euro ohne Notar, Grunderwerbsteuer et cetera.

Ein Blumenverkäufer an seinem Stand
Steffen Drechsel verkauft seit 22 Jahren Blumen in Dresden-Loschwitz: "Die Leute hier sind total entspannt, ich würde es sozialen Frieden nennen." Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Entspannte Stimmung: "Ich würde es sozialen Frieden nennen"

Blumenhändler Steffen Drechsel verkauft seit 22 Jahren in Loschwitz seine floralen Prächtigkeiten. Er ist zufrieden. "Die Menschen hier sind alle entspannt und freundlich. Jeder kennt jeden, oft seit Generationen. Ich würde es sozialen Frieden nennen."

Das hört sich wunderschön an. Ich lasse meinen Blick schweifen. Im Café gegenüber sitzen Leute und plaudern, am Obststand sucht eine gütig lächelnde Dame ihre Äpfel zusammen. Ja, ist es wahnsinnig entspannt. Doch warum muss sozialer Frieden an das Einkommen gekoppelt sein?

Glebe und rote Blumen
Blumen auf dem Markt in Loschwitz: "In der Woche kommen die Patienten der Arztpraxen, am Sonnabend die Einheimischen", erklärt Händler Steffen. Bildrechte: MDR/Katrin Tominski

Zunehmende Trennung von Arm und Reich

Ich muss an den Soziologen Helbig denken und die zunehmende Trennung (Segregation) von Arm und Reich. Die Durchmischung könnte die Lösung sein, sie findet jedoch immer weniger statt. Sie würde ärmeren Menschen helfen und verhindern, dass sich Probleme potenzieren, wie in Gorbitz, wo die Kriminalität steigt. Vielleicht ist es wie in der Schule: Ziehen die leistungsstarken Schülerinnen die Schwächeren nicht mit, werden die Schwächeren angehängt.

Eine Sozialarbeiterin meinte einmal zu mir, wir müssten uns überlegen, was für eine Gesellschaft wir sein wollen. Solidarisch könnte es entspannter werden, glaube ich. Auch für die Wohlhabenden. Auch sie stehen unter Druck. Wie sagte ein Freund, TU-Mitarbeiter, Immobilienbesitzer zu mir: "Unter Milliardären fühlt sich auch der Millionär arm." Armut sei für ihn, abseits der sozialen Definition, mehr haben zu wollen, als man hat. Das könne jedem passieren. "Soziale Teilhabe wird in unseren Gesellschaften oft an Geld gemessen", erklärt er mir. "Es gibt viele andere Faktoren, die persönliches Glück und gesellschaftliches Miteinander prägen."

Gegen das Stigma

Vielleicht ist es das. Vielleicht müssen wir uns als Gesellschaft unbedingt von diesen schrecklichen Stigmata lösen, vom Stigma des Armen, des Reichen, des Ossis und Wessis, des Klugen und weniger Klugen, des Migranten und des "randständigen" Sachsens.

Hier passt wunderbar Gerlinde ins Bild, die in ihrer Fahrradtasche nach ihrem Portemonnaie kramt. "Ich fühle mich reich", erklärt sie lachend. "Reich ist, wer gesund ist, ein Auskommen hat und nette, liebevolle Menschen um sich herum." Erst kürzlich habe sie sich die Schulter gebrochen und viel Hilfe erfahren. Gerlinde ist der Liebe wegen nach Loschwitz gezogen, in das Haus ihres Mannes, der schon vor vielen Jahren gestorben ist. Auch Gerlinde nennt nicht ihren richtigen Namen.

Neulich wurde sie selbst abgestempelt. Als sie in einem hochpreisigen Laden am Schillerplatz nach einer Frühlingsbluse Ausschau hielt, rümpfte die Verkäuferin nur die Nase. "Ich bin vielleicht nicht gestylt angezogen, bodenständig", erklärt sie. "Doch so eine Arroganz, das war schrecklich."

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nachrichten | 11. April 2024 | 21:45 Uhr

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