Kreml in Moskau
Wer in Russland den Ukraine-Krieg kritisiert, riskiert denunziert zu werden. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Wie zu Sowjetzeiten Russland: Denunzianten haben Konjunktur

30. Oktober 2022, 16:08 Uhr

Seit Ausbruch des Ukraine-Krieges blüht das Denunziantentum in Russland auf. Staatstreue Nachbarn zeigen echte oder vermeintliche Kriegsgegner an, Eltern denunzieren die Lehrer ihrer Kinder als proukrainisch und unpatriotisch. Denunzieren hat in Putins Reich Hochkonjunktur.

Porträt Maxim Kireev
Maxim Kireev Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Früher, sagt Tatjana Tscherwenko, habe sie von politischen Denunziationen nur in Geschichtsbüchern gelesen. "Dass es heute so etwas gibt, habe ich nicht geglaubt, bis ich selbst damit konfrontiert worden bin."

Menschen schwenken Fahnen, während sie sich zu einem Konzert versammeln, um den Beitritt neuer Gebiete zu Russland auf dem Roten Platz in Moskau zu feiern.
Feierlichkeiten zur völkerrechtswidrigen Annexion ukrainischer Territorien. Wer gegen den Ukraine-Krieg ist, ist gut beraten, das für sich zu behalten. Bildrechte: IMAGO/Maksim Blinov

Tscherwenko ist Lehrerin für Mathematik an der Moskauer Schule Nr. 1747. Den Job, den sie liebt und für den sie eine Karriere als Unternehmensberaterin aufgegeben hat, könnte sie jedoch bald verlieren. Der Grund: Vor einigen Wochen flatterte bei der Kinderbeauftragten des Kremls ein Brief herein. Darin wurde Tscherwenko von einer Unbekannten als "kyjiw-hörige Ukrainerin" und "Nationalistin" verunglimpft. "Jemand, der staatsfeindliche und proukrainische Positionen vertritt, darf keine Kinder unterrichten", heißt es in dem Schreiben, das Tscherwenko in ihrem Facebook-Profil öffentlich gemacht hat.

Auch wenn die Vorwürfe absurd sind – dass sie früher oder später Probleme bekommen könnte, hat die Moskauerin gewusst. Schließlich hatte sie bislang als eine der wenigen Lehrerinnen in Russland gewagt, öffentlich Kritik an der Staatsmacht zu üben und gegen den Krieg in der Ukraine zu protestieren. Sie spricht mit oppositionellen und ausländischen Medien. Noch im März wurde sie bei einer Demonstration gegen den Krieg festgenommen und musste umgerechnet 300 Euro Strafe zahlen. "Außerdem habe ich mich im neuen Schuljahr geweigert, die nun obligatorischen Propaganda-Stunde abzuhalten", ergänzt Tscherwenko. Lehrer sind verpflichtet, darin die Sichtweise des Kremls auf den Krieg zu verteidigen. "Seitdem überlegt die Schulleitung, wie sie mich am ehesten loswird."

Ehemann denunziert seine Frau

Blick durch eine regennasse Scheibe au den Kreml in Moskau
Trübe Zeiten für Kriegsgegner in Russland. Bildrechte: imago images/SNA

Der Fall der Moskauer Lehrerin ist nur einer von Dutzenden aus den vergangenen Monaten. Denn eigentlich erlebt Russland nun seit Jahren eine Renaissance des Denunziantentums. Seit Präsident Putin den Angriff auf die Ukraine befohlen hat, erreicht es aber völlig neue Ausmaße. Im Juli sorgte ein Familienstreit für Aufsehen in der Presse, als ein Russe seine Ehefrau bei der Polizei wegen ihrer "antirussischen Äußerungen im Zusammenhang mit der Spezialoperation" anzeigte. Sie würde das gemeinsame Kind gegen die Regierung aufstacheln.

Im Juni stürmte die Polizei die Wohnung von Oleg Belousow. In einem Chat für Hobby-Archäologen hatte er sich seit Beginn des Krieges kritisch über Putin geäußert. Ein alter Bekannter, ebenfalls Hobby-Archäologe, zeigte ihn deswegen an. "Wir kannten uns seit drei Jahren, und ich wusste, dass er Putin und seine Partei Einiges Russland kritisiert", erklärte der Anzeigenschreiber gegenüber Journalisten. Früher sei das für ihn kein Problem gewesen, doch jetzt komme das einem Landesverrat gleich. Der 54-jährige Belousow sitzt seitdem in Untersuchungshaft und wartet auf seinen Prozess. Ihm werden Extremismus und die Verbreitung von Falschmeldungen vorgeworfen.

Priester bricht Beichtgeheimnis

Orthodoxer Gottesdienst in Russischer Kirche
Selbst die Kirche ist kein sicherer Rückzugsraum mehr: Staatstreue Priester brechen das Beichtgeheimnis und zeigen Kriegsgegner an. Bildrechte: MAGO/Kirill Kallinikov

Der jüngste öffentlich bekannt gewordene Fall ist weniger als zwei Wochen alt: Ein orthodoxer Priester meldete Sergej Ugljaniza nach einer Beichte beim Geheimdienst FSB. Der staatstreue Gottesdiener gab zu Protokoll, dass Ugljaniza während der Beichte "proukrainische Äußerungen" gemacht und anschließend eine Kerze für den "Sieg der Ukraine" angezündet habe. Dem Denunzierten droht vorerst eine Geldstrafe.

Menschenrechtler in Russland fühlen sich derweil an die Zeiten der Sowjetunion erinnert. Auch unter Stalin blühte das Denunziantentum. Oft sei es damals auch um materiellen Gewinn gegangen, sagt der Historiker Alexej Makarow, Mitglied der in Russland inzwischen verbotenen Nichtregierungsorganisation Memorial, die Verbrechen des Stalinismus aufklärt und in diesem Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Nachbarn hätten nicht davor zurückgescheut, andere Nachbarn zu denunzieren, um etwa an den begehrten Wohnraum zu kommen. Heute gehe es dagegen vielmehr darum, Loyalität gegenüber dem Staat zu zeigen. "Das Ausmaß des Phänomens in der heutigen Zeit erinnert an die späte Sowjetunion", meint Makarow.

Der Staat habe zu dieser Renaissance der Denunzianten entscheidend beigetragen. Seit mehr als zehn Jahren etwa existiert in Russland das Gesetz zur Kennzeichnung von "ausländischen Agenten". Seitdem wurde die Suche nach äußeren und inneren Feinden institutionalisiert. Seit Beginn des Ukraine-Krieges spricht zudem auch Wladimir Putin von inneren Feinden. Bei einer Rede im März erklärte Putin, dass es in Russland "innere Feinde gibt", die man "wie eine Fliege ausspucken" sollte. Hinzu kommt, dass ebenfalls im Frühjahr gleich mehrere Gesetze verabschiedet wurden, die die sogenannte "Verunglimpfung der Armee" sowie das "Verbreiten von Falschmeldungen über das Militär" unter Strafe stellen.

Denunzieren als Loyalitätsbekundung

Der Oppositionspolitiker Vladimir Kara-Murza, rechts, der angeblich falsche Informationen über die Streitkräfte des Landes verbreitet hat, wird vor dem Treffen über die Verlängerung der Haft im Bezirksgericht Basmanny gesehen.
Viele Regimegegner in Russland landen wegen einer Denunziation durch Nachbarn und Bekannte hinter Gittern. Bildrechte: MAGO/Aleksey Nikolskyi

Die Anthropologin Alexandra Archipowa von der Moskauer Universität RGGU hat sich etwa 3.000 Verfahren angeschaut, in denen Russinnen und Russen wegen ihrer Kritik am Krieg strafrechtlich verfolgt werden. Bei rund einem Viertel der Fälle, so Archipowa, wurden die Menschen nicht etwa von den Behörden oder Aktivisten angezeigt, sondern von Nachbarn und Bekannten denunziert. Für viele Menschen sei dies eine einfache und unkomplizierte Möglichkeit, sich mit den Stärkeren zu identifizieren und das Gefühl zu haben, auf der richtigen Seite zu stehen.

Menschen wie die Mathematik-Lehrerin Tatjana Tscherwenko wollen sich den Denunzianten nicht fügen und weiter kämpfen. Erst vor wenigen Tagen lauerten ihr Polizisten vor der Schule auf, die sie aufs Revier brachten, wo sie eine schriftliche Erklärung abgeben musste, dass sie über die geltenden Demonstrationsgesetze informiert sei. Zudem habe die Schuldirektorin sie offiziell verwarnt, weil sie keine Propaganda-Stunde im Unterricht abgehalten hatte. "Ich weiß, dass die nächste Verwarnung kommt und ich dann entlassen werden kann." Sich damit abfinden will die Moskauerin aber nicht. Gegen die Verwarnung habe sie bereits eine Klage beim Bezirksgericht in Moskau eingereicht.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 05. November 2022 | 07:15 Uhr

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