Michail Gorbatschow am 3. September 1991
Für Autor Tim Herden war Michail Gorbatschow ein Held. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

MDR-Hauptstadtkorrespondent Tim Herden Mein Held ist tot – zum Tod von Michail Gorbatschow

31. August 2022, 18:21 Uhr

Für MDR-Hauptstadtkorrepondent Tim Herden ist Michail Gorbatschow ein Held, der ihm die Freiheit geschenkt hat. Seine persönlichen Erinnerungen und Gedanken zum Tod von Gorbatschow können Sie hier nachlesen.

Einmal im Leben wollte ich Michail Gorbatschow sehen. Am 23. Mai 2003 ergab sich endlich die Möglichkeit. Ein Jubiläum der SPD im Berliner Tempodrom. Gorbatschow war der Ehrengast. Ich saß in der fünften Reihe. Kurz vor der Veranstaltung kam er. Ein kalter Schauer jagte durch meinen Körper. Dieser Mann mit dem Muttermal auf der Stirn und so ohne jeden Habitus eines Staatsmanns hatte mir also die Freiheit geschenkt. Und jetzt saß ich kaum fünf Meter von ihm entfernt. Von den Reden habe ich nicht viel mitbekommen. Mein Blick haftete auf Gorbatschows Hinterkopf. Mich beschäftigte nur eine Frage: Wo wäre ich, wären wir alle hier im Saal, wenn es ihn nicht gegeben hätte.

Dienstagabend, als die Todesnachricht auf dem Handy erschien, überkam mich eine tiefe Traurigkeit. Der Held meiner frühen Jahre war tot. Fast 40 Jahre liegt es zurück, dass ich zum ersten Mal den Namen Gorbatschow hörte. Er kam mehr oder weniger aus dem Nichts. Ich war gerade bei der Armee, und wir hatten uns schon fast daran gewöhnt, dass die Herrscher im Kreml im Jahresrhythmus dahinschieden. Erst Breshnew, dann Andropow und nun Tschernenko. Beim Gemeinschaftsempfang der "Aktuellen Kamera" in der Kaserne hörten wir wohl alle zum ersten Mal den Namen Gorbatschow. Vorschusslorbeeren bekam er schon allein deshalb, weil er kein kranker Greis wie seine Vorgänger war. Schnell lernten wir zwei neue Begriffe, Perestroika und Glasnost. Und hätten uns das auch für die DDR gewünscht. Deshalb wurde Gorbatschow unser Held.

Glasnost und Perestroika waren eine Hoffnung

Im Studium, im "Roten Kloster", der Sektion Journalistik an der Universität Leipzig führten wir mit unseren Professoren und Dozenten lange Debatten. Gerade als Journalisten war der Gedanke Glasnost, also Offenheit, ja Ehrlichkeit geradezu ein Heilsversprechen, endlich auszubrechen aus dem Korsett einer Berichterstattung, die immer noch dem Leninschen Vorsatz verpflichtet war, "kollektiver Propagandist, Agitator und Organisator" zu sein und Parteilichkeit im Journalismus oberstes Prinzip sei. Doch schnell stießen wir an Mauern. Wir sollten lernen, dass der Satz, von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen, nicht mehr gilt.

Stattdessen wurde der neue Leitsatz durch das Politbüromitglied Kurt Hager formuliert, dass man nicht verpflichtet sei, seine Wohnung zu tapezieren, nur weil es der Nachbar tun würde. Damit war das Thema Reformen in der DDR abgesagt. Dass die DDR Gorbatschows Reden nur gekürzt veröffentlichte, lernten wir im Russisch-Unterricht an der Uni, als wir die Originaltexte seiner Reden aus der sowjetischen Zeitschrift "Neue Zeit" übersetzen sollten. Wir pinselten einfallsreich den Nachdruck aus dem "Neuen Deutschland" ab und wurden dann sträflich von unserer russischen Russisch-Lehrerin entlarvt, weil ganze Passagen im deutschen Text aus dem Original fehlten, aber es uns nicht aufgefallen war. Sie selbst übrigens war kein Gorbatschow-Fan, denn die Nachrichten aus der Heimat über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten beunruhigten sie.

Geschichte beweist: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben"

Unserem Helden schadete es nicht. Seine Abrüstungspolitik schien endlich die permanente Gefahr eines Atomkriegs in weitere Ferne zu rücken. Sein Buch "Umgestaltung und neues Denken" wurde unsere Bibel. Als in der Zeit der Dokumentar- und Kurzfilmwoche im November 1988 sowjetische Zeitungen – offensichtlich initiiert von Margot Honecker – verboten wurden, nahm ich zum ersten Mal an einer Unterschriftenaktion teil. Gerade die Filme und Artikel über die weitgehend in der DDR verschwiegenen Verbrechen während der Zeit des Stalinismus in der Sowjetunion waren es, die bei vielen den Glauben an die sozialistische Gesellschaftsordnung erschütterten. Aber Gorbatschow schien mir mit seiner Politik eine Alternative zu den verkrusteten Strukturen anzubieten. Die "Gorbi, Gorbi"-Sprechchöre bei seinen Besuchen in der DDR waren schon mehr Hilferufe, nun endlich auch die SED-Führung zu Reformen zu bewegen. Der ihm nachgesagte Satz "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" am Rande der Feiern zum 40. DDR-Republikgeburtstag war uns aus der Seele gesprochen und ist bis heute ein geflügeltes Wort. Die Geschichte hat seine Richtigkeit bewiesen.

Ohne Gorbatschow weder Einheit noch Freiheit

Ohne Gorbatschow hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben. Ich weiß noch, wie im den Wochen des Wendeherbstes 1989 die Angst umging, die sowjetische Armee könnte die friedliche Revolution beenden, wie 1953 in Berlin, 1956 in Budapest und 1968 in Prag mit Panzern den Aufstand ersticken. Wir hielten den Atem an, als am 9. November 1989 die Mauer geöffnet wurde und die sowjetischen Soldaten in den Kasernen blieben. Heute wissen wir, dass Gorbatschow nicht dem Drängen seiner Generale im Stab der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte in Wünsdorf, nahe Berlin nachgegeben hat. Er öffnete so nicht nur eine Grenze, sondern die Chance zur Beendigung der deutschen Teilung. Dafür bin ich ihm bis heute dankbar. Andere sind es nicht. Vor drei Jahren machte ich ein Interview mit Egon Krenz zu seinem Buch "Wir und die Russen". Mich erschreckte sein Hass auf Gorbatschow. Für Krenz hat Gorbatschow die DDR verraten und an den Westen verkauft. Eine Weltsicht ohne Einsicht. Ich blieb ratlos zurück.

Denn wo wären wir sonst, wenn Gorbatschow seinen Generälen nachgegeben hätte? Vielleicht wäre es zu einem Volksaufstand gekommen. Wie heute in der Ukraine oder 1961 beim Bau der Berliner Mauer hätte die Nato nicht eingegriffen, sondern hätte zusehen müssen, was passiert. Das Handeln Gorbatschows 1989 und 1990 in den Verhandlungen zur deutschen Einheit erklärt auch, warum viele Ostdeutsche selbst Putins Russland Sympathie entgegen brachten, bis der Krieg gegen die Ukraine begann. Wie nun wieder ihr und auch mein Glaube in ein Land erschüttert wurden, ohne dessen Zutun es keine Freiheit und Einheit gegeben hätte. Wie oft habe ich den Satz gehört, das hätten wir Russland nicht zugetraut. Denn in uns schlummerte immer noch der Glauben, dass dieses Russland eines Michail Gorbatschow keinen Krieg, zumal noch gegen ein Brudervolk, riskiert, der zum Weltbrand werden könnte.

Gorbatschow wurde vom Westen im Stich gelassen

Ich glaube aber auch, dass der Westen und selbst wir Deutschen Gorbatschow nach der Einheit im Stich gelassen haben. Durch sein Tun, die friedlichen Revolutionen nicht nur in der DDR, sondern in ganz Osteuropa zuzulassen und damit den Machtbereich der Sowjetunion als Weltmacht aufgegeben zu haben, glaubte man, das Ende der Geschichte erreicht zu haben. Gerade die USA deuteten Gorbatschows Handeln in einen eigenen Sieg um und seine Zugeständnisse als Schwäche. Die mündlichen Versprechen über eine Nichterweiterung der Nato wurden nicht in Verträge für ein System kollektiver Sicherheit mit der Sowjetunion oder mit Russland verwandelt. Man redet sich heute damit heraus, dass es Gorbatschows Fehler war, zu sehr den Zusagen zu vertrauen, statt auf schriftlicher Fixierung zu bestehen. Heute nutzt Putin dieses enttäuschte Vertrauen als Rechtfertigung für seinen kriegerischen Rachefeldzug gegen die Ukraine. 

Helden enden meist tragisch

Im Frühjahr und Sommer 1991 drehte ich einen Film über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Halle an der Saale. Da fuhren Offiziere und Soldaten ins Ungewisse. Die ruhmreiche Sowjetarmee war geschlagen worden ohne Krieg. Ein Bundeswehroffizier, der den Abzug begleitete, warnte, wir sollten nicht den Fehler machen, diesen Abzug in eine Niederlage der Russen umzudeuten. Das sei sehr gefährlich. Er sollte recht behalten. Gorbatschows Feinde im eigenen Land unternahmen einen Putschversuch. Ich saß am Schnittplatz, war in der Endfertigung meines Films über den Abzug, als die Bilder kamen von Gorbatschow nach seinem Arrest. In verschmutzter Kleidung kommt er eine Gangway herab, verlassen und verloren. Das schmerzte mich ungemein. Helden enden meist tragisch.  

Schon 2003, bei meiner Begegnung mit Gorbatschow in Berlin, hatte er seine einstige weltpolitische Bedeutung endgültig eingebüßt. Ein gern gesehener Gast, der Veranstaltungen und Festakte schmückte, aber dessen Wort nicht mehr viel galt. Trotzdem, ohne ihn, wäre ich heute nicht da, wo ich bin, hätte ich viele Dinge in meinem Leben, die mir bis 1989 unerreichbar erschienen, nicht machen können als Journalist. Und ich kann in Freiheit leben. Dafür schulde ich Michail Gorbatschow Dank. Mag er in Frieden ruhen.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 31. August 2022 | 17:45 Uhr

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