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Global Virome Project Corona: Brauchen wir einen globalen Virenatlas?

17. August 2020, 11:43 Uhr

Pandemien sind vorhersehbar, sagt der amerikanische Virologe Dennis Carroll. Man muss nur wissen, welche Viren wo lauern. Dazu arbeitet er an einem globalen Virenatlas, dem "Global Virome Project". Damit will er weltweit sämtliche Viren dokumentieren, die der Menschheit gefährlich werden könnten. Doch können wir uns damit wirklich besser auf einen möglichen Ausbruch vorbereiten?

Die meisten Pandemien werden von zoonotischen Viren ausgelöst - von Viren, die vom Tier auf den Menschen übergehen. Diesen Vorgang nennen die Wissenschaftler "Spillover". Das kann jederzeit überall auf der Welt geschehen. Und Dennis Carroll ist überzeugt: Die nächste Pandemie wird kommen, und zwar schneller, als wir denken. Deshalb lautet seine Devise:

Wir müssen sie finden, bevor sie uns finden!

Dennis Carroll, Virologe

Denn dann müssten wir nicht erst reagieren, wenn die nächste Pandemie da ist, sondern könnten die Initiative ergreifen und Vorsorge treffen. Dafür hat er das "Global Virome Project" gegründet. Ein erster wichtiger Schritt ist für ihn, Orte ausfindig zu machen, an denen potenziell gefährliche Viren bei Wildtieren besonders häufig auftreten und wo es zugleich eine starke Interaktion mit Menschen gibt. Das könnten unter anderem Wildtiermärte sein, wie der in der chinesischen Metropole Wuhan, einem der möglichen Orte, an denen das Coronavirus auf Menschen übergepsrungen ist. Caroll will virale Hotspot-Karten mit solchen Orte erstellen.

Deutsche Virologen fordern ebenfalls Frühwarnsystem für Viren

Untersützung erhält seine Forderung derzeit von vielen deutschen Medizinern, wie etwa Stephan Ludwig. Der ist Direktor des Instituts für Molekulare Virologie an der Uni Münster und glaubt, dass mit der Überwachung solcher Viren-Hotspots neue Pandemien frühzeitig verhindert werden können. "Wenn bei Routine-Untersuchungen auf Lebendtiermärkten vermehrt Infektionen gefunden werden, muss sofort die Bremse reingehauen werden, um die schnelle Verbreitung zu stoppen", sagt er.

Vorgängerprojekt "PREDICT" als zu teuer eingestellt

Das "Globale Virome Project" ist nicht Carrolls erstes Vorhaben in Sachen Virendokumentation. Von 2009 bis 2019 leitete er das Programm "PREDICT“, das als Reaktion auf den Ausbruch der "Vogelgrippe“ von 2005 ins Leben gerufen wurde. In über 35 Ländern weltweit gingen Wissenschaftler als Virenjäger auf die Suche. Sie drangen bis in die entlegensten Gegenden vor und nahmen viele Gefahren auf sich, um dort Proben von Tieren zu nehmen, die Viren in sich tragen: z.B. Fledermäuse, Nagetiere oder Affen.

In abgelegenen Höhlen, im tiefsten Dschungel, in tropischen und subtropischen Gebieten fanden die Forscher 1.600 neue Viren mit dem Potenzial, auf den Menschen überzuspringen. 2019 stellte die Trump-Administration das Programm als zu teuer ein. Doch Dennis Carroll gab nicht auf. Er gründete das Global Virome Project. Noch ehrgeiziger als das vorherige und mit dem Ziel, gemeinsam mit Partnern weltweit eine international verfügbare genetische Datenbank aufzubauen.

Wir müssten nicht mehr zwei, drei Jahre auf einen Impfstoff warten. Wir würden die virale Bedrohung von morgen kennen und einen Werkzeugkasten ausstatten mit Impfstoffen, neuen Wirkstoffen, neuer Diagnostik.

Dennis Carroll, Global Virome Project
Fledermäuse an der Decke einer Höhle
Fledermäuse tragen ein großes Reservoir an Viren in sich. Bildrechte: imago images/Cavan Images

Innerhalb von 10 Jahren soll das Projekt soweit sein, dass man damit arbeiten kann, so Carroll. Um neue Bekämpfungsstrategien daraus ableiten zu können, ist es wichtig, die Viren zu bestimmten Gruppen, Familien und Strängen zuordnen zu können. Bisher musste jeder Virustyp spezifisch bekämpft werden. Jetzt soll man sich nicht nur gegen ein bestimmtes Virus schützen können, sondern gleich gegen ganze Virengruppen.

Strategien gegen die gesamte Corona-Virusfamilie

Für jedes Corona-Virus, das bekannt ist, gibt es schätzungsweise ca. 4.000 weitere Corona-Viren, die in der Tierwelt zirkulieren. Derzeit sind die genetischen Sequenzen lediglich für eine Handvoll Viren entschlüsselt. Hätte man die genetischen Profile aller, könne man Strategien nicht nur gegen MERS, SARS oder Covid-19, sondern gegen die gesamte Corona-Virusfamilie entwickeln.

Kritiker stellen Projekt in Frage

Das Global Virome Project wird ca. 3,5 Milliarden Dollar kosten und voraussichtlich 10 Jahre dauern. Kritik wird einerseits hinsichtlich der Kosten laut. Andererseits merkt das Wissenschaftsmagazin "The Lancet" an, die Geschichte habe gezeigt, dass die Entdeckung von Viren nicht ausreicht, um größere Ausbrüche zu verhindern. Die Autoren weisen darauf hin, dass zum Beispiel Influenzaviren bereits 1933 erstmals isoliert wurden, aber eine Verbreitung nicht verhindert werden konnte. Die Zikaviren wurden 1947 entdeckt. Trotzdem konnten die Zika-Ausbrüche 2007, also 60 Jahre später auf den Yap-Inseln und 2013/2014 in Französisch-Polynesien nicht verhindert werden.

Dem gegenüber steht die Entdeckung des Vogelgrippevirus H5N1 in Hong-Kong 1997. Damals gelang es durch die Notschlachtung vieler Millionen Hühner den ersten Ausbruch zu bremsen. Zwar sei das Virus Jahre später erneut aufgetreten, aber die erste Aktion sei richtig gewesen, sagt der Münsteraner Virologe Stephan Ludwig.

Können die Datenmengen sinnvoll genutzt werden?

Die Kritiker des Global Virome Projects stellen auch in Frage, ob man mit der zu erwartenden Datenmenge überhaupt sinnvoll arbeiten könne. Immerhin wird derzeit geschätzt, dass zwischen 631.000 und 827.000 unbekannte Viren zoonotisch seien und damit potenziell auf den Menschen übergehen könnten. Carroll dagegen argumentiert, dass auch beim Human Genome Project (1990 bis 2003) zunächst riesige Datenmengen produziert wurden. Heute jedoch, 17 Jahre später, gäbe es Methoden, diese Daten viel schneller und effektiver zu verabeiten.

Und was die Kosten angeht, so glaubt Carroll, dass wir endlich ein anderes Bewusstsein brauchen, um die Risiken, die durch Viren entstehen, richtig einzuschätzen und uns dagegen abzusichern. Das tun wir schließlich bei anderen Risiken auch.

Wenn wir ein Haus bauen, wissen wir, das ein Brand ausbrechen könnte und schützen es davor. Etwa 10 bis 15 Prozent der Kosten für ein neues Gebäude fließen in den Brandschutz, auch wenn es dann gar nicht brennt. Aber wir sind vorbereitet für den Fall, dass es dazu kommt. Und genau so müssen wir in Bezug auf die Vorbeugung und Kontrolle zukünftiger viraler Bedrohungen denken.

Dennis Carroll, Global Virome Project

Am Ende soll ein Virenkatalog entstehen

Die Daten des Global Virome Project sollen in einer Art Katalog zusammengefasst werden, um im Falle eines Übergangs auf den Menschen und einer Ausbreitung den Übertragungsweg ermitteln zu können. Begonnen werden sollte mit Feldstudien in Thailand und in China, schrieb das Fachmagazin Lancet Glob Health am 16. September 2019.

Ob nun als Katalog oder als permanentes Überwachungssystem: Viele Forscher unterstreichen jedenfalls die Forderung danach, potenziell zoonotische Viren besser im Blick zu behalten, wie etwa Anfang Juli in einem Beitrag für die renommierte Zeitschrift Science.

Gabi Schlag / krm/ ens / dpa

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