Circus Sarrasani Mit Exotik und Erotik: Geschichte einer Zirkusfamilie

14. Februar 2020, 16:46 Uhr

Ein Junge aus einer guten Familie läuft mit einem Wanderzirkus davon. Eine Katastrophe für einen gutbürgerlichen Haushalt im auslaufenden 19. Jahrhundert. Ein Glück jedoch für das Zirkuswesen.

"Zirkus war so etwa das Schlimmste, was einem Vater passieren konnte damals. Der Vater hat im Haus alle Erinnerungsstücke an den Sohn vernichten lassen. Er ist bis zum Lebensende enterbt gewesen. Es gab keinen Kontakt zur Familie. Das war der verstoßene Sohn", sagt André Sarrasani rückblickend. Er führt die Familientradition der Sarrasanis bis heute fort.

Der Sohn will zum Zirkus - Albtraum des Vaters

Angefangen hatte alles mit Hans Stosch, geboren 1873. Hans will zum Zirkus. Das passt seinem Vater, Ferdinand Traugott Stosch, überhaupt nicht - der alte Stosch ist ein "Oeconom und Weinbergbesitzer" aus Sachsen. Zirkus - das passt nicht zu diesem Leben in den feinen Kreisen der Familie Stosch. Der Vater hätte Hans gern als Beamten, Professor oder Kaufmann gesehen.

Dass der ungehorsame Sohn einmal ein Zirkusunternehmen gründen wird, welches über 100 Jahre bestand haben soll, ahnt kein Mensch, als Hans 1888 ausbüxt und sich einem bayerischen Wanderzirkus anschließt. 15 Jahre alt und abenteuerlustig dient er sich zunächst als Stallbursche an. Er schuftet ohne Bezahlung rund um die Uhr und dient sich hoch zum Clown. Doch Ausreißer Hans Stosch wird nicht zum einfachen Possenreißer, dem "dummen August". Er entwickelt eigene Ideen - und macht sich selbstständig. Mit einer eigenen Shownummer präsentiert er sich als Dressurclown mit Affen, Gänsen, Schweinen, Eseln und Hunden. Für die Tiershow "Funny Family" nennt sich Hans Stosch künftig "Giovanni Sarrasani". "Sarrasani" - das klingt sensationell und aufregend.

Das klingt natürlich sensationell. Du musst gar nicht Zirkus dazu sagen. Das klingt schon wie Bühne, wie Manege, wie Glitzer, wie Lachen, wie alles, was eine Faszination ausstrahlen.

André Sarrasani, Zirkusdirektor 2014

Geschäftstüchtig: Vom Dressurclown zum Zirkus-Unternehmer

Als "Dressurclown Sarrasani" reist Hans Stosch bis nach Portugal und Russland. Europas Königshäuser gehören zu seinen Bewunderern und seine Gagen sind für deutsche Verhältnisse undenkbar hoch. Längst träumt er von einem eigenen Zirkus und 1901 ersteigert Stosch Tiere, Technik und Zeltzubehör eines pleite gegangenen Zirkus'. Binnen eines Jahres stellt er ein neues Zirkusunternehmen auf die Beine. Schon 1902 lädt der junge, geschäftstüchtige Jung-Unternehmer zu einer glänzenden Premiere in Meißen - und wartet mit einer Sensation auf: Es ist der erste elektrisch beleuchtete Zirkus, "der modernste Circus der Jetztzeit", wie er sich selbst bewirbt. Dieser bietet Platz für 3.600 Zuschauer und wartet mit einem "vorzüglich eingerichteten Buffet" auf, wie der Zirkus später in seiner eigenen Chronik festhält. Der einstige Pleitezirkus ist umfunktioniert zum schillernder Palast im Stil der "Belle Epoque". Mit Fassaden, die mit italienischen Originalgemälden geschmückt sind. Stoschs Aufführungen sind mehr als ein aneinander gereihtes Nummernprogramm - Sarrasani erfindet Gesamtkunstwerke.

Das hat, glaube ich, keiner ihm zugetraut, von einem Stalljungen eben zu einem Zirkusfürsten zu werden.

André Sarrasani

Zirkus spielt mit Exotik und Erotik

Als "hellster Zirkus der Neuzeit" beginnt der Circus Sarrasani seinen märchenhaften Siegeszug mit Gastspielen in allen großen Städten des Landes. Sarrasani verknüpft den Triumph der Technik mit dem kolonialen Zeitgeschmack. Seine Attraktionen und Sensationen begeistern das Publikum: Da gibt es Señor Toledo, der rätselhafte Kerl kann Türkensäbel im rauhen Dutzend schlucken. Oder Mr. Sascha, das malayische Haarphänomen, der mit seiner buschigen Mähne bis zu 75 Pfund hebt. Mr. Bourgognino, der Kautschukmann, kann aus seinen Kniekehlen Tee trinken! Das Unternehmen wächst rasant - und mit ihm der Druck, dem Publikum Tag für Tag neue Sensationen zu bieten. Die größte Sensation sind die Tiere, die die Exotik leibhaftig in die Manege bringen: 250 Tieren gehören zum Circus, darunter zehn indische Elefanten, zehn afrikanische Löwen, acht Strauße, außerdem Dromedare, Kamele, Zebras, Bären, Hunde und Rassepferde. Zur Show gehört neben der Exotik auch ein Hauch von Erotik - die Verkleidungen der Frauen aus fernen Ländern lässt auch manches Fitzelchen nackter Haut sehen. Ein Jahrzehnt nach Gründung ist der Zirkusdirektor am vorläufigen Ziel seiner Träume: mit einem eigenen Fuhrpark reist er durch die Welt.

Gigantischer Vergnügungspalast in Dresden

Mit Mitte dreißig führt Hans Stosch das größte und erfolgreichste Zirkusunternehmen Europas. Aus dem abenteuerhungrigen Träumer ist ein Manager geworden, ein Geschäftsmann, der mit Träumen und Illusionen handelt. Eigentlich ganz im Sinne seines Vaters, was den unternehmischen Aspekt angeht. Doch ausgesöhnt haben sie sich trotzdem nie, der Sohn bleibt enterbt. Indessen laufen die Geschäfte des jungen Zirkusmanagers so gut, dass Sarrasani den Bau eines gigantischen Vergnügungspalastes in Dresden plant - so wie er es in Paris und Berlin gesehen hat. 1902 gibt er die Errichtung des größten festen Zirkusbaus der Welt in Auftrag.

1. Weltkrieg - Circus Sarrasani setzt nach Südamerika über

Doch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs platzt der Traum - er bedeute das Aus für internationale Gastspiele. Zirkuspersonal ohne deutschen Pass muss zurück in die Heimat, und wer einen hat, muss an die Front. Alle Zugmaschinen werden für die Armee eingezogen. Es bleiben nur die Tiere, abgesehen von den Pferden, die im Krieg nicht gebraucht wurden. Sarrasani wagt einen abenteuerlichen Schritt - er sucht Sponsoren und fährt 1924 mit zwei Dampfschiffen nach Südamerika. An Bord sind 500 Menschen und 400 Tiere. Sein Plan geht auf - finanziell saniert, kehrt Stosch zurück nach Europa. Mit einem Zelt, das inzwischen mehr als 10.000 Zuschauern Platz bietet.

Goldene 20er-Jahre

Die goldenen 1920er-Jahre werden auch für ihn goldene Jahre: Hans Stosch nutzt den wirtschaftlichen Boom zur Expansion des Unternehmens. Er hat mehr als 800 Angestellte und internationale Artisten unter Vertrag. Doch in den 1930er-Jahren geht er zurück nach Südamerika, seine Weltoffenheit passt nicht mehr in die Zeit. Das sorgt für Spannungen zwischen Hans Stosch und seinem gleichnamigen Sohn, der den Vater nach und nach als Chef des Zirkus ablösen soll. Der Junior ist bereit, das Programm auf NS-Parteilinie zu bringen. Als er drei überzeugte Nazis in die Geschäftsleitung holt, schreitet der Senior ein - er wirft sie hinaus. Senior Sarrasani steht zu seinen Artisten - unter ihnen sind auch einige Juden, die Hans Stosch für seine Südamerikareise unter Vertrag nimmt. So verschafft er ihnen die Ausreise.

Zirkus-Revolutionär stirbt in Brasilien

Im April 1934 bricht Sarrasani nach Brasilien auf, wo er auch für sich selbst die Staatsbürgerschaft beantragt. Am 17. September wird ihm die brasilianische Einbürgerungsurkunde im Krankenhaus von Sao Paulo überbracht. Vier Tage später stirbt Hans Stosch im Alter von 67 Jahren - an Herzversagen. Die Fußstapfen sind groß, die Hans Stosch hinterlässt. Für seinen Sohn zu groß. Sechs Jahre nach Rückkehr des Zirkus' in das faschistische Deutschland übernimmt seine Frau Trude 1941 das Unternehmen. Am 13. Februar 1945 fallen die Bomben auf Dresden - auch auf den Circus Sarrasani. Das Gebäude wird zerstört. Trude Stosch wandert aus und stellt in Argentinien ein neues Unternehmen auf die Beine: Den "Circo Sarrasani Shangri-La" - 1950 erhält er sogar den Titel "argentinischer Nationalcircus".

1956: Neustart in Mannheim

Im Osten als faschistischer Propagandazirkus verschrien, darf Sarrasani nur im Westen weiter spielen. 1956 wird der Zirkusbetrieb in Mannheim wieder aufgenommen. Trude Stosch ist nach Südamerika ausgewandert. Doch ihrem engsten Mitarbeiter Fritz Mey, der schon in seinen jungen Jahren das Unternehmen Sarrasani als Betriebsdirektor mitgeleitet hat, gelingt es in den folgenden Jahrzehnten, den Zirkus im Westen zu etablieren. Und auch Künstler aus dem Osten in seinen Zirkus zu holen. In Zeiten des Kalten Krieges versuchen Fritz Mey und seine Frau immer wieder vergeblich, mit ihrem Familienbetrieb zu Gastspielen in der DDR zugelassen zu werden. Nun ist Sarrasani wieder da. Mit dem Zirkus kehrt für viele Dresdner ein Stück ihrer eigenen Geschichte zurück.

1990: Rückkehr nach Dresden

André Sarrasani ist 17 und arbeitet in der Reklametruppe des Zirkus. Als sein Vater Anfang 1990 beschließt nach Dresden zu gehen, fragte er sich, warum. "Ich bin hier durch Dresden gefahren und habe die ersten Plakate aufgehängt und da kamen Leute auf uns zu und sagten: 'Wow, unser Sarrasani ist wieder da'. - Diese Faszination, die Sarrasani hier 40 Jahre am Leben erhalten hat, in den Köpfen der Menschen, in den Erzählungen, das haben wir dort erlebt, wir haben unser Zelt hier aufgebaut und das war faszinierend.
Die Begeisterung des Publikums, wie wir hier aufgenommen wurden von den Dresdnern. Die Leute haben uns Sachen mitgebracht vom alten Sarrasani, vom alten Gebäude, was sie gerettet hatten aus den Trümmern. Sie waren auch fasziniert, also es war ein gegenseitiges Verständnis da zwischen der Bevölkerung und uns – es war unwahrscheinlich bewegend."

Über dieses Thema berichtete der MDR auch bei MDR Dok: Sarrasani - der Zirkusrevolutionär | 16.02.2020 | 22:50 Uhr