Als der letzte DDR-Flüchtling durch die Ostsee schwamm
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04. September 2017, 09:25 Uhr
2. September 1989: ein 24-jähriger Kfz-Mechaniker schwimmt nachts durch die Ostsee. Sein Ziel: die Bundesrepublik Deutschland. Er ist der letzte Republikflüchtling der DDR-Geschichte.
Im September 1989 hat Mario Wächtler genug. In der DDR sieht er keine Perspektive mehr für sich. Also setzt er sich in Karl-Marx-Stadt ins Auto, am Steuer sein Bruder, auf der Rückbank dessen Freundin. Gemeinsam geht es Richtung Norden, Richtung Meer. Wächtler ist ausgebildeter Rettungsschwimmer und so kam er schon vor Jahren auf die Idee für sein Flucht: schwimmend durch die Ostsee.
Im Mondschein durch die Bucht
Ausgangspunkt ist das Wohlenberger Wiek, eine Bucht in Mecklenburg-Vorpommern. Von dort sind es nur etwas über 30 Kilometer Luftlinie nach Schleswig-Holstein. Doch die Engstelle ist schwer gesichert. An Land gibt es 75 Beobachtungsstellen, auf See sind 34 Boote mit 800 Grenzern im Einsatz. Insgesamt 1.000 Mann stark ist das "Grenzkommando Küste".
Um kurz vor 23 Uhr erreicht Wächtlers Trabant die dunkle Küstenstraße. Schnell springt der 24-jährige aus dem Wagen und verschwindet im Gebüsch. Dort legt er seine Kleidung ab, untendrunter trägt er einen kurzärmligen Neoprenanzug. Flossen und Schnorchel hat er auch dabei, aber keine Brille. Die könnte Scheinwerferlicht reflektieren und ihn so verraten.
Erster Fluchtversuch mit 15
Nachdem eine Grenzpatrouille vorbeigelaufen ist, ohne Wächtler zu bemerken, gleitet der junge Mann in das 15 Grad kalte Wasser. Langsam schwimmt er aus der Bucht heraus, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Wächtler weiß, was ihn erwartet. Den ganzen Sommer hat er in der Talsperre Pöhl im Vogtland trainiert. Doch im offenen Meer lässt die Strömung ihn nur mühselig vorankommen.
Mit 15 Jahren hat Wächtler schon einmal versucht, zu fliehen - mit dem Zug. Bei Gotha wird er erwischt und landet für eine Nacht im Gefängnis, danach eine Woche im Kinderheim. Es folgt eine Anklage wegen versuchter Republikflucht, aber die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt. So soll es diesmal nicht enden und so schwimmt Wächtler Zug um Zug seiner Freiheit entgegen.
Von Fährkapitän und Grenzern entdeckt
Als es Stunden nach dem Start hell wird, befindet sich Wächtler immer noch auf DDR-Territorium. Zwei Patrouillenboote passieren ihn, bemerken den Schwimmer aber nicht. Wächtler bekommt Angst: Angst entdeckt zu werden oder die Kraft zu verlieren. So wie 174 Menschen vor ihm. So viele ließen laut einer später veröffentlichten DDR-Statistik ihr Leben, als sie schwimmend durch die Ostsee fliehen wollten. Zwei Drittel von ihnen waren jünger als 21.
Am Abend erreicht Wächtler vollkommen erschöpft die Fahrrine der westdeutschen Ostseefähren. Der Kapitän der "Peter Pan", Gerhard Haucke, entdeckt den winkenden Mann im Wasser und schaltet sofort. Noch während er die riesige Fähre wendet, lässt er ein Rettungsboot zu Wasser. Das Manöver wird auch von den nahen DDR-Grenzern bemerkt, die sofort Kurs auf Wächtler nehmen.
Applaus und Startgeld für den letzten Flüchtling
Ein regelrechtes Wettrennen bricht aus zwischen dem DDR-Patrouillen- und dem Rettungsboot der Fähre. Das erreicht den jungen Mann jedoch zuerst und birgt diesen aus dem kalten Wasser. Das Patrouillenboot dreht daraufhin ab. 19 Stunden war Wächtler bis zu diesem Moment im Wasser und ist dabei 39 Kilometer geschwommen. Er kann sich kaum auf den Beinen halten, als er auf die Fähre gehievt wird. Dort brandet Applaus unter den Gästen auf, die die Rettung beobachtet haben.
Spontan entscheiden sich die Passagiere aus Westdeutschland, Schweden, Dänemark und den Niederlanden zu einer Spendenaktion für den entkräfteten Flüchtling. 5.000 Mark kommen so zusammen - das Startkapital für Wächtlers neues Leben. Heute lebt dieser in Hannover und betreibt eine eigene Firma. Die Flossen von seiner Flucht hat er immer noch.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im: TV | 06.07.2016 | 22:05 Uhr