Jugendkrawalle in der DDR Mit Flaschen und Steinen zum Republikgeburtstag
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25. September 2019, 15:14 Uhr
Am 7. Oktober 1977 kommt es auf dem Alexanderplatz in Berlin zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Konzertbesuchern und der Polizei. Westliche Medien berichten sogar von getöteten Polizisten. Die DDR-Führung versucht, die Ereignisse so weit wie möglich geheim zu halten. Intern wächste die Angst vor weiteren Unruhen.
Die 16-jährge Margitta Kupler kommt am 7. Oktober von einem Fußballspiel des 1. FC Union Berlin. Mit einigen Freunden und hunderten weiteren Fußballfans zieht sie zum Alexanderplatz. Dort soll ein Konzert der Band „Express“ stattfinden. Etwa 20.000 Menschen haben sich auf dem zentralen Platz Ostberlins versammelt. Doch irgendetwas stimmt nicht. Die Band hat aufgehört zu spielen. Unmut macht sich breit. „Es war klar, das Konzert findet nicht mehr statt, das wurde dann auch gesagt. Da kippte dann die Stimmung in Unzufriedenheit gegen den Staat“, erinnert sich Margitta an den Beginn der Auseinandersetzungen.
Krankenwagen kommt nicht durch
Was Margitta und wie viele andere nicht mitbekommen haben: Die Band hatte aufgehört zu spielen, weil neun Jugendliche in einen mehrere Meter tiefen Lüftungsschacht am Fernsehturm gefallen waren und nun schwerverletzt dort unten liegen. Weil der Krankenwagen nicht durchkommt, um die Jugendlichen zu versorgen, versucht die Polizei, einen Weg zu bahnen. Der Spiegel (47/1977) berichtet, dass die Polizei mit Megaphonen die Menge auffordert, Platz zu machen. Als das nicht hilft, lässt sie Hunde los. Laut Bericht der Staatssicherheit kommen die Ereignisse so ins Rollen: "Die Gründe des Einsatzes der VP (Volkspolizei) bewusst ignorierend, begannen sie, die eingesetzten VP-Angehörigen mit beleidigenden Äußerungen zu beschimpfen sowie in Sprechchören sogenannte Union-Schlachtrufe zu gröhlen."
"Deutschlands größte Schande - die Honecker-Bande"
Das Geschehen gerät außer Kontrolle – die Menge fängt an, Parolen zu skandieren wie: "Nieder mit der DDR", "Honecker raus – Biermann rein" und "Was ist Deutschlands größte Schande – die Honecker–Bande." Die Polizei geht mit Gummiknüppeln und Hunden gegen die Aufrührer vor. Die wiederum schlagen mit Bierflaschen auf die Polizisten ein, zerbrechen Gehwegplatten, die sie auf das "Bullenpack" schleudern. Polizisten werden Kleidungsstücke vom Körper gerissen und angezündet. Der Spiegel zitiert zwei Studenten aus West-Berlin: "Wir sahen, wie eine brennende Uniformmütze und -jacke durch die Luft flogen – unter dem gellenden Beifall der Umstehenden."
"Unter dem Eindruck heißer Rhythmen"
Margitta Kupler gelingt es, sich in eines der angrenzenden Hochhäuser zu flüchten. Von oben beobachtet sie die Lage: „Es war ein beängstigendes Bild. Der Alex war mit Wasserwerfern voll. Von hinten kam die Bereitschaftspolizei.“ Sie sieht, wie die Polizei mit Wasserwerfern eine große Gruppe von Jugendlichen in den Autotunnel unter dem Alex drängte, um sie dort einzuschließen. Gegen 23:30 Uhr haben die Einsatzkräfte die Situation wieder unter Kontrolle. Die Polizei hatte 313 Leute verhaftet. Westliche Medien berichten, dass mindestens zwei Polizisten getötet worden waren.
Die Staatsführung ist bemüht, so wenige Informationen wie möglich an die Öffentlichkeit dringen zu lassen und tut alles in ihrer Macht stehende, um auch ausländische Korrespondenten am Berichten zu hindern. So redet Ost-Korrespondent Fritz Pleitgen am folgenden Tag in der Tagesschau darüber, wie ein Kollege von hinten angefallen und ihm die Kamera entrissen wurde. Im "Neuen Deutschland" ist am nächsten Tag nur zu lesen, dass es zu "Handgreiflichkeiten" gekommen sei –
seitens einiger Rowdys beziehungsweise solcher Jugendlicher, die unter dem Eindruck der heißen Rhythmen nicht wussten, was sie taten.
Tiefe Beunruhigung über die Vorkommnisse
Doch anders als die lapidare Meldung im Neuen Deutschland vermuten ließe, beängstigt das brutale Aufbegehren der Jugendlichen auf dem Alex die Obrigkeit durchaus, und sie ist bereit in aller Härte dagegen vorzugehen. In den nächsten Tagen werden weitere 155 Menschen verhaftet. Margitta Kupler erlebte die Konsequenzen in ihrer Schule:
Von den Festgenommenen werden 87 zu Haftstrafen zwischen sechs Wochen und vier Jahren verurteilt, 16 erhalten eine Bewährungsstrafe. Das aggressive Aufbegehren der Jugendlichen erschüttert die DDR-Führung. Die Konsequenzen: noch schärfere Kontrolle und konsequente Bestrafung auch kleinerer Vergehen. 1979 wurde eine Gesetzesänderung erlassen, die das Demonstrationsverbot drastisch verschärfte. Die Krawalle am 7. Oktober 1977 waren kein politischer Widerstand, zeigten aber, wie dicht der Unmut gegen die Staatsmacht unter der Oberfläche lag und sich beim geringsten Anlass entladen konnte.
(ubi,Quellen: Spiegel 47 / 1977; BSTU)
Über dieses Thema berichtet der MDR auch im Radio: MDR Kultur: Kalenderblatt | 07.10.2017 | 06:45 Uhr