Stockender Kita-Ausbau Fledermäuse und alte Bäume sind wichtig – aber Kinder auch

15. Mai 2024, 12:54 Uhr

Bürokratie beim Bau von Kitas nimmt immer mehr zu. Bis zu 18 Behörden müssen einem Kindergartenbau zustimmen. Das kann sich Deutschland bei 400.000 fehlenden Kitaplätzen nicht leisten. Ilse Wehrmann hat 50 Jahre Kita-Erfahrung. Sie hat Kitas geleitet und berät bundesweit Kommunen und Unternehmen beim Bau neuer Kindergärten. Im Interview erzählt sie von absurdem Regelwahn und sucht Lösungen im Sinne der Kinder.

Sie haben umfangreiche Erfahrung im Bereich Kindertagesstätten und frühkindliche Bildung. Sie haben Kindertagesstätten geleitet und den Bau von mehr als 30 Kitas bundesweit begleitet. Welche bürokratischen Hürden sehen Sie in Deutschland?

Ilse Wehrmann: Die Bürokratie ist immer schlimmer geworden in meiner 50-jährigen Erfahrung. Was wir zurzeit an Bürokratie erleben, ist alles andere als kinderfreundlich. Ich finde es einen Wahnsinn. In einem Land, in dem 400.000 Kita-Plätze fehlen, müssten wir doch alles tun, um diesen Kindern so schnell wie möglich eine gute Einrichtung zu bauen. Aber vor einem Kita-Bau müssen bis zu 18 Behörden zustimmen. Zudem muss vieles inzwischen europaweit ausgeschrieben werden – Spielmaterial oder Außenspielgeräte zum Beispiel. Wir sind immer kinderfeindlicher geworden. Das Land der Dichter, Denker und Erfinder, dessen einziger Rohstoff Wissen ist, darf so nicht weitermachen.

Es kann doch nicht sein, dass wir so viele freie Räume haben in allen Kommunen und Städten. Da stehen Büroräume und Läden leer und wir könnten kurzfristig mit guten Architekten reingehen, um Bildungsmöglichkeiten für Kinder zu schaffen. Das tun wir aber nicht. Wir sind ein Land der Bedenkenträger.

Vor einem Kita-Bau müssen bis zu 18 Behörden zustimmen.

Dr. Ilse Wehrmann, Sozialpädagogin und Erzieherin

Wie lange dauert es, eine Baugenehmigung für eine Kita zu erhalten?

Ein bis anderthalb Jahre. Ich mache vieles mit privaten Investoren. Das geht schneller – nicht was die Baugenehmigungen angeht, aber die eigentlichen Bauten gehen schneller. Zum Beispiel habe ich alle Betriebskitas für Daimler mit gebaut. Das hat nie länger gedauert als acht Wochen bis zu einem Vierteljahr für die Baugenehmigung und dann wurde in sechs bis acht Monaten die Kita gebaut. Das ist fünf bis sechs Jahre her, aber heute undenkbar und eine völlig andere Welt. Das müsste viel schneller gehen.

Welche Stellschrauben müssen gedreht werden, um Bürokratie zu reduzieren?

Es muss schneller gehen. Nordrhein-Westfalen hat zum Beispiel mal eine Taskforce gegründet, wo alle an einem Tisch saßen und alle Bauanträge mit allen Beteiligten durchgesprochen wurden. Dann wurde die Baugenehmigung erteilt. Das wünsche ich mir auch für Kitas, damit wir schneller werden. Die Investoren werden ja auch müde, weil es nicht weitergeht. Die haben keine Lust mehr zu investieren im Kindergartenbereich.

Man muss auch bedenken, es gibt einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz seit 2013 und auf einen Kita-Platz seit 1996. Wir waren mal die Vorreiter in der frühkindlichen Bildung. Wir haben so viel verspielt. Der Kindergarten ist eine deutsche Erfindung und nun habe ich das Gefühl, dass wir abgehängt sind.

Der Kindergarten ist eine deutsche Erfindung und nun habe ich das Gefühl, dass wir abgehängt sind.

Dr. Ilse Wehrmann, Sozialpädagogin und Erzieherin

Aus Ihrer praktischen Erfahrung, welches waren die absurdesten Beispiele für Bürokratie, die Ihnen widerfahren sind?

Für eine Kita in Bremerhaven haben wir inzwischen das fünfte Fledermaus-Gutachten und kommen mit dem Bau nicht voran. Dort planen wir eine Einrichtung, die in einem Komplex nebeneinander eine Kita und ein Hospiz beherbergt. Das Hospiz ist inzwischen schon lange fertig, aber die Kita ist noch nicht gebaut. Stattdessen ist da eine Brache, weil wir ein Gutachten nach dem anderen machen müssen. Zum einen wegen der Fledermäuse zum anderen wegen alter Bäume, die zwar krank sind, die wir aber nicht entfernen dürfen. Es gibt immer wieder neue Auflagen und es muss immer wieder neu geprüft werden. Das ist kein Einzelfall. Fledermäuse und Bäume sind wichtig und zu schützen, aber Kinder doch auch. Da muss man abwägen und das tun wir nicht mit genug gesundem Menschenverstand.

In einem anderen Fall stand eine Kita kurz vor der Eröffnung. Die Eingewöhnung der Kinder war schon geplant. Doch dann war eine Tür nicht lieferbar, und die ganze Kita hätte wegen nicht eingehaltener Brandschutzauflagen nicht eröffnet werden dürfen. Wir haben kurzerhand zwei Feuerwehrleute organisiert, die dann Dienst gemacht haben und diese nicht vorhandene Tür bewacht haben. Nur so konnten wir die Kita eröffnen.

Absurde Bürokratie habe ich auch in meiner Zeit als Kindergartenleiterin erlebt. An den Garderoben der Kinder waren die Haken so platziert, dass sich die Kinder beim Anziehen den Kopf aufgeschlagen haben. Ich hatte dann Anträge gestellt, die Haken zu versetzen. Das wurde abgelehnt. Irgendwann habe ich eine Bohrmaschine gekauft und die Haken versetzt. Das hat mir eine Abmahnung und eine Kündigung als Leiterin eingebracht. Erst später ist das wieder zurückgenommen worden.


Ilse Wehrmann
Bildrechte: Ilse Wehrmann

Zur Person Dr. Ilse Wehrmann ist promovierte Sozialpädagogin und Erzieherin. Sie hat Kitas geleitet, war Vorsitzende der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder und berät Kommunen und Unternehmen beim Aufbau neuer Kitas. Bundesweit hat sie den Bau von mehr als 30 Einrichtungen begleitet. Sie ist als freie Beraterin im Bereich frühkindlicher Bildung tätig und Autorin diverser Fachpublikationen.

Sie haben bundesweit den Bau von mehr als 30 Kitas begleitet. Gibt es Unterschiede hinsichtlich der Bürokratie zwischen den Bundesländern?

Ja, es gibt Unterschiede. Auch zwischen den Kommunen gibt es Unterschiede. Wir haben 16 Bundesländer mit 16 verschiedenen Bildungsplänen, die haben 45 bis 400 Seiten. Da wünschte ich mir den schwedischen Bildungsplan mit etwa 30 Seiten, wo alles Wichtige drinsteht. Entscheidend ist ja am Ende die Umsetzung. Was ich beanstande ist, dass wir vorher beim Bau so viele Auflagen machen, aber hinterher wird nicht mehr so geschaut. Wir halten uns an Äußerlichkeiten fest – zum Beispiel ob die Steckdosen die richtigen Abstände haben.

Welche Rolle spielt der Föderalismus beim Kita-Bau?

Föderalismus bedeutet, dass jedes Land das für sich regeln kann. Ich wünsche mir einheitliche Standards in allen Bundesländern und allen Kommunen und zügigere Genehmigungsverfahren bei Neubauten.

Welche Unterschiede erleben Sie beim Bau kommunaler und betrieblicher Kitas?

Die Kommunen müssen alles öffentlich ausschreiben. Jede Dienstleistung muss ausgeschrieben werden. Das dauert einfach schon lange. Das machen die privaten Unternehmen nicht so. Sie können Projekte deshalb schneller realisieren.

Bei Daimler habe ich zum Beispiel den Bau von 14 Einrichtungen begleitet. Da habe ich eine Fortbildung für alle Architekten gemacht, wie eine gute Kita aussehen muss. Wir hatten 14 verschiedene Architekten und das sind alles sehr schöne Einrichtungen geworden. Man muss es also fachlich begleiten und Fortbildungen machen, aber es muss nicht jedes Gewerk ausgeschrieben werden, weil das einfach sehr lange dauert.

Wenn Sie sich Kitas im Ausland anschauen, welche Unterschiede fallen Ihnen in puncto Bürokratie auf und was können wir daraus lernen?

Ich bin mal für die Bosch-Stiftung um die Welt geschickt worden. Jede Kita, die ich weltweit gesehen habe, wäre nach unseren Maßstäben noch am gleichen Tag geschlossen worden. Aber die Haltung zu den Kindern hat vielerorts gestimmt. Die Bildungsanreize haben gestimmt. Und die Entscheidungen für neue Kitas sind oft schneller und unbürokratischer.

Meine große Kritik an unserer Kommunal- und Landespolitik ist, dass wir Kinder nicht ernst genug nehmen, weil es so mit Kindergärten und Schulen nicht weitergeht. Es ist peinlich, wo wir im weltweiten Vergleich inzwischen stehen. Wir muten unseren Kindern inzwischen so viele Schulden zu, ein kaputtes Klima und wir sind nicht in der Lage, ihnen geeignete Bildungsmöglichkeiten zu schaffen. Das ist ein Skandal hoch drei. Wir müssen es anders wollen. Es gäbe genug private Investoren, die bereit wären, schnell zu bauen. Aber wir stehen uns selbst im Wege, weil die Bürokratie immer mehr wird. Das schreckt Träger ab, das schreckt Investoren ab und wir gewöhnen uns daran und überlassen es den Eltern, irgendwelche Notlösungen zu finden.

Sie haben umfangreiche Erfahrung im Bereich frühkindlicher Bildung und berichten auch von zu viel Bürokratie im pädagogischen Bereich. Wie zeigt sich das?

Ich denke, manchmal kommen die Erzieherinnen und Erzieher nicht mehr zur Arbeit mit den Kindern und machen nur noch Aufsicht, aber nicht mehr Bildung, weil sie zwischen Dokumentieren und Aufsicht zeitlich keine andere Möglichkeit haben. Wir machen alles immer 150-prozentig. Aber das ist zu viel Bürokratie.

Ein Beispiel sind die Dokumentationen. Heute sind sogenannte Portfolios in vielen Einrichtungen üblich. Als es sie in deutschen Kitas noch nicht gab, bin ich auf einer Reise nach Neuseeland auf die ersten Portfolios gestoßen. Die Kinder am anderen Ende der Welt haben sie mir gezeigt, und ich durfte mir ihre Sammlungen nur mit ihrer Erlaubnis anschauen, weil das Portfolio Eigentum der Kinder ist. Das ist der Grundgedanke, warum wir mit den Portfolios auch in Deutschland begonnen haben, dass wir mit den Kindern etwas tun, ihnen die Welt erklären. Das ist zehnmal wichtiger als die eigentliche Dokumentation. Deshalb würde ich die Dokumentationen heute knapper halten. Entscheidend ist doch, dass jeder Tag für die Kinder spannend ist und wir Erzieher haben, die Kinder neugierig machen und Empathie haben.

Was ist ein Kita-Portfolio? Das Portfolio eines Kindes ist eine Sammlung – meist in Form eines Ordners oder einer Mappe. Darin werden Beiträge gesammelt, die das Kind mit einem Pädagogen oder manchmal auch mit seinen Eltern erstellt.

Das Kind wählt die Themen der Beiträge mit aus, es kommentiert und gestaltet mit, indem es malt oder bastelt. So werden seine persönlichen Interessen, Fähigkeiten und Stärken sichtbar. Portfolios dienen dazu, Lernerfolge systematisch zu dokumentieren und persönliche Weiterbildungsstrategien zu planen. Diese Dokumentationen sind Eigentum des jeweiligen Kindes. Deshalb entscheidet das Kind selbst darüber, wer sich sein Portfolio ansehen darf.

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