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Bilder einer Razzia 26 min
Audio: Im Oktober 2022 hatten rund 300 Beamte in mehreren Bundesländern Praxis-, Wohn- und Geschäftsräume durchsucht - unter anderem die in der Acqua Klinik in Leipzig. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk

Kopfzentrum Leipzig Schmerzensgeld für Kind nach Behandlungsfehler

27. April 2024, 05:00 Uhr

Der frühere Geschäftsführer der Kopfzentrum-Gruppe Leipzig musste sich wegen Behandlungsfehlern bei Operationen an einem Kind vor dem Zivilgericht verantworten. Wegen anderer Vorwürfe dauern die Ermittlungen gegen ihn an. Zudem sitzt er derzeit in der Justizvollzugsanstalt (JVA).

älterer Mann
Der ehemalige Geschäftsführer der Kopfzentrum Gruppe: Professor Gero Strauß. Bildrechte: MDR exakt

Für Familie Tieftrunk endet endlich das letzte Kapital einer langen Leidenszeit. Zwischen 2017 und 2018 wurde Sohn Jonas mehrmals von Professor Strauß am Ohr operiert. Bei den Eingriffen und bei der Nachbehandlung soll es zu groben Behandlungsfehlern gekommen sein, so der Vorwurf gegen den ehemaligen Geschäftsführer und medizinischen Leiter der Leipziger Kopfzentrum-Gruppe. Die Eltern verlangten deshalb für ihren Sohn Schmerzensgeld von Professor Gero Strauß. Am Donnerstag war Verhandlungstermin vor der Zivilkammer des Landgerichts Leipzig.

Es ist nicht das erste Mal, dass Strauß vor dem Landgericht Leipzig auf Schmerzensgeld verklagt wurde. Ein Gerichtssprecher teilte MDR Investigativ auf Anfrage mit, dass seit 2016 bis heute insgesamt 23 Arzthaftungsverfahren anhängig waren oder noch anhängig sind.

Gutachter äußert sich entsetzt über die Eingriffe

Als Jonas Tieftrunk sechs Jahre alt war, wurde bei ihm ein sogenanntes Cholesteatom festgestellt. Eine chronische Mittelohrentzündung, die unbehandelt zu Hörschäden führen kann. Damals wurde der Junge insgesamt sieben Mal durch Ärzte des Kopfzentrums am Ohr operiert.

Stefan Plontke von der Uni Halle, der die Studie zur Behandlung bei Hörsturz leitete.
Professor Stefan Plontke von der Uni Halle begutachtete Jonas' Fall für das Gericht und sah gravierende Behandlungsfehler. Bildrechte: Universitätsmedizin Halle

Zwei Operationen, die von Strauß durchgeführt wurden, sollen den Krankheitsverlauf aber verschlimmert statt verbessert haben. Diese Auffassung vertritt Professor Stefan Plontke von der Uniklinik Halle. Der Spezialist für Hals-Nasen-und Ohrenheilkunde war im Prozess als Gutachter aufgetreten. Er hat alle Unterlagen zum Fall eingesehen und versuchte sachlich seine Eindrücke zu schildern. Dennoch merkte man ihm vor Gericht an, wie entsetzt er teilweise über die Ergebnisse der fraglichen Eingriffe war.

Eine Operation sei seiner Meinung nach viel zu früh auf eine vorangegangene erfolgt. "Mindestens sechs Monate zu früh", so Plontke. Bei einem weiteren Eingriff sei es zu groben Behandlungsfehlern gekommen. Strauß habe eine Methode verwendet, die in Fachkreisen schon damals längst nicht mehr Anwendung gefunden habe und als gescheitert gelte. Für den Eingriff, für den Professor Plontke erfahrungsgemäß 90 Minuten Operationszeit ansetzen würde, habe Strauß laut Dokumentation lediglich 20 Minuten gebraucht. Es sei schlichtweg unmöglich, in dieser kurzen Zeit auch nur ansatzweise sorgfältig zu arbeiten, erklärte der Gutachter.

Plontkes Fazit: Er habe insgesamt den Eindruck, dass bei Jonas Tieftrunk besonders viele Operationen in kurzer Zeit erfolgen sollten. Auch die Nachbehandlung sei mangelhaft verlaufen. Er könne sich nicht erklären, dass einem eigentlich erfahrenen Operateur solche Fehler unterlaufen. Wenn man merke, dass man etwas nicht in den Griff bekäme, müsse man vielleicht auch mal überlegen, den Patienten an einen Berufskollegen zu übergeben, sagte er.

Die Ermittlungen gegen die Kopfzentrum-Gruppe

Strauß und die Kopfzentrum-Gruppe sind bereits seit längerem im Fokus. MDR Investigativ hatte seit März 2021 mehrfach über schwere Vorwürfe gegenüber der Gruppe berichtet. Es ging unter anderem um mutmaßlichen Abrechnungsbetrug, mögliche Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz und den Verdacht von Behandlungsfehlern. Im Oktober 2022 hatten rund 300 Beamte in mehreren Bundesländern Praxis-, Wohn- und Geschäftsräume durchsucht - unter anderem die in der Acqua Klinik in Leipzig.

Für die Leipziger Polizei und Staatsanwaltschaft war es eine der größten Razzien der letzten Jahre. Die Ermittlungen richten sich gegen zehn Ärzte und zwei kaufmännische Führungskräfte der Leipziger Kopfzentrum-Gruppe. Nach Recherchen von MDR Investigativ ist der ehemalige Geschäftsführer Strauß einer der Beschuldigten. Ende 2022 hat er die Kopfzentrum-Gruppe verlassen. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft dauern an. Solange gilt die Unschuldsvermutung.

Kopfzentrum-Gruppe soll doch weiterbetrieben werden

Vor rund zwei Jahren wurde die Kopfzentrum-Gruppe an eine Investorengruppe aus Frankfurt am Main verkauft. Vor einem Jahr hatte dann die neue Geschäftsführung der Kopfzentrum-Gruppe die Eröffnung mehrerer Insolvenzverfahren beantragt. Am 19. April 2024 hieß es in einer Pressemitteilung, die Kopfzentrum-Gruppe wolle aus insolvenzrechtlichen Gründen Ende April den Betrieb einstellen. Es fehle an den finanziellen Mitteln.

Doch nun scheint der Weiterbetrieb gesichert. In einer weiteren Pressemitteilung vom 25. April heißt es: "Dank des Engagements der MVZ MedVZ am Uniklinikum Leipzig sowie der Sana Kliniken ist der unterbrechungsfreie Weiterbetrieb ihrer Praxisstandorte in Leipzig gesichert. Die MVZ MedVZ am Uniklinikum Leipzig wird die Praxisstandorte in der Fichtestraße, der Waldstraße und Grünau unterstützen, die Sana Kliniken die Praxen am Ostplatz sowie in der Landsberger Straße." Ab dem 2. Mai könnten Patienten neue Termine vereinbaren. Auch der OP-Betrieb solle nahtlos fortgesetzt werden.

Professor Strauß derzeit in JVA untergebracht

Und Professor Strauß? Nach seinem Aus in der Kopfzentrum-Gruppe zog es ihn nach Berlin, wo er einen  beruflichen Neustart wagte. Zur mündlichen Verhandlung in dem Schadenersatzprozess hatte das Landgericht Leipzig das persönliche Erscheinen von Strauß angeordnet. Doch er kam nicht. Beobachtungen vor Ort ließen aber den Schluss zu, dass Gero Strauß dennoch im Gerichtsgebäude gewesen sein musste. Johann Jagenlauf vom Landgericht Leipzig erklärte MDR Investigativ auf Nachfrage: "Nachdem die Kammer in Erfahrung gebracht hatte, dass er sich in der JVA befindet, war die Vorführung angeordnet worden."

Professor Strauß ist zurzeit also in der JVA untergebracht. Das deckt sich mit Recherchen von MDR Investigativ, wonach der 53-Jährige in Leipzig Untersuchungshaft sitzen soll. Das hatten mehrere Quellen unabhängig voneinander berichtet. Weiter erklärte Johann Jagenlauf: "Vor der Sitzung hatte der Anwalt des Beklagten eine Vollmacht […] vorgelegt und mitgeteilt, dass der Mandant in der Sitzung keine Angaben machen werde und ersucht, von der Vorführung in den Sitzungssaal abzusehen." Die Kammer war dieser Bitte nachgekommen.

Warum befindet sich Gero Strauß in der JVA? Die Staatsanwaltschaft Leipzig teilte MDR Investigativ schriftlich mit, dass man grundsätzlich keine personenbezogenen Auskünfte zu Ermittlungsverfahren erteile. "Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und der Unschuldsvermutung bestätigt die Staatsanwaltschaft noch nicht einmal, ob ein Ermittlungsverfahren gegen eine bestimmte Person geführt wird oder erteilt Auskünfte dazu, welche Maßnahmen gegen die konkrete Person in dem Verfahren ergriffen wurden."

Familie ist mit Vergleich zufrieden

Der Zivilprozess endete mit einem Vergleich. Familie Tieftrunk soll eine Schadenersatzsumme im fünfstelligen Bereich erhalten – ohne Anerkennung einer Rechtspflicht durch die Gegenseite. So heißt es, wenn die Zahlung auf freiwilliger Basis erfolgt. Damit sind dann alle Ansprüche abgegolten. Nun muss noch die Haftpflichtversicherung von Strauß der Zahlung zustimmen. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

Ich weiß nicht, wie so etwas passieren kann. Warum macht man so viele Fehler?

Gabriele Mayer Fachanwältin für Medizinrecht

Gabriele Mayer, Fachanwältin für Medizinrecht, hat die Familie vor Gericht vertreten und ist mit dem Ausgang des Verfahrens zufrieden. Mehrmals habe sie schon gegen Strauß prozessiert, berichtet sie MDR Investigativ. Warum er sich immer wieder mit Schadenersatzforderungen konfrontiert sieht, kann sie sich nicht erklären. "Ich weiß nicht, wie so etwas passieren kann. Warum macht man so viele Fehler? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er unfähig war. Ich weiß nicht, ob es wirklich wirtschaftliche Gründe hat, dass diesem ärztlichen Ethos nicht entsprochen worden ist und wirklich unnötige Operationen in Gang gesetzt wurden."

Ein Mann steht auf dem Vorplatz des BVG in Leipzig
Für den Vater von Jonas war es eine schwere Zeit während des Prozesses. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Lars Tieftrunk, der Vater von Jonas, sagt, ihm ist es schwergefallen, die Leidensgeschichte seines Sohnes im Gerichtssaal noch einmal durchleben zu müssen. Er erinnert sich: "Jonas‘ Kindheit war in einigen Punkten einfach nicht schön. Im Sommer konnte er nur baden gehen, wenn wir sein Ohr komplett abgeklebt haben. Denn es durfte kein Wasser in sein Ohr gelangen."

Außerdem sei eine Art Trauma zurückgeblieben. Noch heute dürfe man das Ohr des inzwischen 13-Jährigen nicht berühren. Ein weiteres Problem: Durch die häufigen Operationen steige das Risiko von Entzündungen und Komplikationen bei Folgeeingriffen. Jonas gehe es mittlerweile gut. Ärzte außerhalb des Kopfzentrums hätten sein Ohrleiden schließlich in den Griff bekommen. Dreimal musste er dafür noch operiert werden. Der Vater sagt: Mit dem Vergleich kann die Familie nun endlich dieses Kapitel abschließen.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Sachsenspiegel | 19. April 2024 | 19:00 Uhr

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