Der Grenzübergang Bornholmer Straße am 11. November 1989
Tag zwei nach dem Mauerfall: der Grenzübergang Bornholmer Straße in Berlin am 11. November 1989 Bildrechte: MDR/Bundesbildstelle/Lehnartz

Mauerfall 1989 Schabowskis Zettel oder der Tag, an dem die Mauer fiel

09. November 2022, 05:00 Uhr

Es war ein weltgeschichtliches Ereignis, als der Ost-Berliner SED-Chef Günter Schabowski am frühen Abend des 9. November 1989 auf einer Pressekonferenz verkündete, dass DDR-Bürger über sämtliche Grenzkontrollstellen ausreisen könnten – und zwar sofort. Nur wenige Stunden später strömten Zehntausende DDR-Bürger in den Westen. Die Berliner Mauer war gefallen. Dabei wollte Schabowski nur ein neues Reisegesetz der DDR-Regierung vorstellen.

Am Vormittag des 9. November 1989, einem diesigen, verregneten Donnerstag, treffen sich im Büro von Gerhard Lauter zwei Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit sowie ein Abteilungsleiter aus dem Innenministerium. Grund der Zusammenkunft: die Ausarbeitung eines neuen Reisegesetzes.

Lauter ist 39 Jahre alt und seit knapp drei Monaten Chef der Hauptabteilung Pass- und Meldewesen im Innenministerium der DDR. Am 18. Oktober hatte ihm Honeckers Nachfolger Egon Krenz erstmals den Auftrag gegeben, ein Reisegesetz auszuarbeiten. Darin, forderte Krenz, sollte unmissverständlich stehen, dass ständige Ausreisen aus der DDR jederzeit möglich seien. Damit wollte der neue SED-Chef das Problem der massenhaften Republikflucht ein für alle Mal lösen. Zum Thema Besuchsreisen war Krenz nichts eingefallen. Lauter solle sich diesbezüglich Gedanken machen. Er löste das Problem dergestalt, dass er vorschlug, dass jeder DDR-Bürger ein Mal im Jahr für 30 Tage in den Westen reisen darf. Wer die DDR für immer verlassen möchte, könne dies jederzeit tun. Als Lauters Gesetzentwurf am 6. November 1989 veröffentlicht wurde, hagelte es sofort Proteste. Der Tenor: Völlig ungenügend. Selbst die Volkskammer verweigerte ihre Zustimmung.

Günter Schabowski sitzt vor mehreren Mikrofonen 3 min
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3 min

Auf einer Pressekonferenz am 09.11.1989 leitet der Berliner SED-Chef Günter Schabowski durch einen Fauxpas den Mauerfall ein.

Do 09.11.1989 18:50Uhr 02:48 min

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Ein neues Reisegesetz muss her

Nun schien Eile geboten. Denn die Zahl der DDR-Bürger, die in der bundesdeutschen Botschaft in Prag Zuflucht suchten, stieg unentwegt. Und die Tschechoslowakei kündigte an, die Grenzen zur DDR dicht zu machen. Am 8. November wurde Lauter vom Politbüro der SED aufgefordert, bis zum nächsten Tag ein neues Reisegesetz auszuarbeiten.

Die Offiziere der Staatssicherheit, die sich am Morgen des 9. November im Büro Gerhard Lauters eingefunden haben, wollen von einer weitergehenden Besuchsregelung aber immer noch nichts wissen. Lauter argumentiert, dass man die Leute damit erst recht aus dem Land treibe und plädiert für uneingeschränkte Reisefreiheit. Noch vor dem Passus über die Möglichkeit der "ständigen Ausreise aus der DDR" lässt Lauter nun Sätze einfließen, die dem Entwurf eine ungeheure Brisanz verleihen: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt."

"Eine Sensation für deine Pressekonferenz"

Lauters Entwurf wird umgehend an das Zentralkomitee der SED, das an jenem Tag in Berlin zusammengekommen ist, weitergeleitet. In einer Sitzungspause am Nachmittag liest Egon Krenz den Entwurf vor. Er fragt, ob jemand Einwände habe. Keiner meldet sich. Damit ist die Sache beschlossen.

Es gibt freilich berechtigte Zweifel daran, dass die ZK-Mitglieder den Gesetzentwurf tatsächlich in seiner gesamten Dimension verstanden haben. Möglicherweise gingen sie davon aus, dass der Entwurf nur die ständige Ausreise aus der DDR, nicht aber Besuchsreisen regeln würde. In diesem Falle hätte es vermutlich erheblichen Gesprächsbedarf gegeben.

Der Berliner SED-Chef, Politbüromitglied Günter Schabowski, ist bei der Abstimmung über das neue Reisegesetz nicht dabei gewesen, er kommt erst am frühen Abend kurz zur ZK-Sitzung. Er ist in Eile: Am Abend hat er Journalisten zu einer Pressekonferenz über die Lage in der DDR ins internationale Pressezentrum geladen. Egon Krenz drückt ihm den Entwurf des Reisegesetzes in die Hand und sagt: Hier hast du eine Sensation für deine Pressekonferenz. Schabowski steckt das Papier umstandslos in seine Aktentasche und macht sich auf den Weg. Auf einen Stichwortzettel notiert er: "Kurz vor Schluss - Nennung MiRa-Beschluss." Gemeint ist die Sensation, das neue Reisegesetz. Gelesen hat er es nicht.   

"… sofort, unverzüglich"

Um 18 Uhr beginnt Günter Schabowski im Kinosaal des "Internationalen Pressezentrums" in der Berliner Mohrenstraße seine Pressekonferenz. Sie wird vom DDR-Fernsehen live übertragen, das "Sandmännchen" muss deswegen ins zweite Programm ausweichen. Knapp eine Stunde lang berichtet Schabowski von einem SED-Aktionsprogramm und dem Entwurf eines neuen Wahlgesetzes. Die Journalisten langweilen sich und wollen schon aufbrechen, als um 18.52 Uhr Riccardo Ehrmann von der italienischen Pressagentur Ensa nach dem umstrittenen Entwurf des neuen Reisegesetzes fragt.

Schabowski referiert zunächst behäbig über "das Bedürfnis der Bürger zu reisen oder die DDR zu verlassen", ehe er endlich zum Punkt kommt: Heute habe der Ministerrat nämlich beschlossen, "eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen". "Ab wann tritt das in Kraft?", will ein Journalist wissen. Schabowski kramt in seinen Zetteln und nuschelt den Gesetzestext, den er jetzt zum ersten Mal liest, herunter.

"DDR öffnet Grenzen!"

Ein Journalist hakt nach: "Wann tritt das in Kraft?" Nun unterläuft Schabowski der für die Existenz der DDR verhängnisvolle Fehler. Er übersieht, dass auf dem Entwurf das Datum "10. November, 4 Uhr" steht und sagt: "Das tritt nach meiner Kenntnis… Ist das sofort, unverzüglich." Ob das auch für die Grenzübergänge nach West-Berlin gelte? Doch, doch, antwortet Schabowski, da steht "West-Berlin". Er nickt noch einmal zerstreut, dann beendet er die Pressekonferenz. Die Journalisten eilen aus dem Saal. Nur eine Minute später gibt der britische Nachrichtendienst Reuters eine Eilmeldung heraus: "Ausreisewillige DDR-Bürger können ab sofort über alle Grenzübergänge in die Bundesrepublik ausreisen." Die DDR-Nachrichtenagentur ADN verbreitet den von Schabowski verlesenen Text um 19.04 Uhr, der dann auch in der "Aktuellen Kamera" um 19.30 Uhr verlesen wird. Um 20 Uhr beginnt die "Tagesschau" mit dem Satz: "DDR öffnet Grenzen!"

Alltagsgeschäfte in Bonn

In der Bundeshauptstadt ist an diesem 9. November nicht viel los. Bundeskanzler Kohl weilt auf Staatsbesuch in Polen und eine Handvoll Abgeordnete des Deutschen Bundestags debattiert seit dem Nachmittag über die "Förderung des Vereinswesens". Gegen 19.30 Uhr machen Gerüchte die Runde: In Berlin sei "etwas" passiert. Die Debatte wird für eine Stunde unterbrochen, um den Abgeordneten die Möglichkeit zu geben, sich über die Neuigkeiten zu informieren. Als es dann weitergeht, wird die Aussprache über das Vereinswesen auf einen unbestimmten Zeitpunkt vertagt. Stattdessen wird über die möglichen Auswirkungen des neuen Reisegesetzes der DDR debattiert. Danach erheben sich die Abgeordneten von ihren Plätzen und singen die Nationalhymne.

Ansturm auf die Grenzübergänge

Bereits um Viertel nach Acht treffen die ersten Ost-Berliner an den Grenzübergangsstellen der geteilten Stadt ein. Es sind nur wenige und sie postieren sich noch eher neugierig an den Sperranlagen. Die Grenzsoldaten halten die Berliner Mauer noch problemlos dicht. Ganz anders die Situation an der Bornholmer Straße, dem großen Übergang zwischen den Bezirken Prenzlauer Berg und Wedding. Dort stehen um 21.30 Uhr schon Tausende Menschen und fordern die Öffnung der Grenze: "Tor auf! Tor auf!", skandieren sie. Die Grenzbeamten, Zöllner und Stasi-Leute in der Grenzübergangsstelle sind völlig überfordert, sie wissen nicht, was sie tun sollen. Klare Befehle oder Anweisungen gibt es nicht. Über Megafon fordern sie die Menge auf, den Platz vor der Grenzübergangsstelle zu räumen: "Es ist nicht möglich, Ihnen hier und jetzt die Ausreise zu gewähren."

Doch die Menge weicht nicht, im Gegenteil, es strömen immer mehr Leute zur Bornholmer Straße und die Rufe nach einer Grenzöffnung werden lauter. Die Grenzbeamten bekommen es mit der Angst zu tun. Sie sind knapp 60 Mann, jenseits des Schlagbaums stehen jetzt vielleicht schon 20.000 aufgebrachte Menschen. Zwar haben die Staatsdiener Waffen, jeder von ihnen trägt eine Makarow bei sich und in den Waffenschränken liegen Maschinenpistolen. Doch der Einsatz von Schusswaffen ist seit einer Woche verboten. Und was würde passieren, wenn dennoch in die Menge gefeuert würde? Oberstleutnant Harald Jäger, Chef der Passkontrolleure, jedenfalls ahnt: Es wäre das Todesurteil für ihn und seine Männer, denn die Menschen würden die Grenzübergangsstelle schlicht überrennen und die Grenzer lynchen.    

"Macht den Schlagbaum auf!"

Um 21.30 Uhr bekommt Oberstleutnant Jäger Weisung, die Grenze ein kleines bisschen zu öffnen. Es soll Dampf abgelassen werden. Die Bürger, die am vehementesten die Grenzöffnung verlangen, dürfen die DDR verlassen. Allerdings wird ihnen ein Stempel in den Personalausweis gedrückt, der eine Wiedereinreise unmöglich machen soll. Die ahnungslosen Bürger werden quasi ausgebürgert. Die Zöllner müssen aber schon bald erkennen, dass auch die kontrollierte Ausreise keine Entspannung bringt – es strömen immer mehr Menschen zur Bornholmer Straße. Harald Jäger teilt seinen Vorgesetzten am Telefon mit: "Es ist nicht mehr zu halten. Wir müssen die Grenzübergangsstelle aufmachen. Ich stelle die Kontrollen ein und lasse die Leute raus." Es ist 23.29 Uhr, als Harald Jäger seinen Männern den Befehl erteilt: "Macht den Schlagbaum auf!" "Wir fluten jetzt!", brüllt ein Zöllner. Etwa 20.000 Menschen passieren in der kommenden Stunde freudetrunken die geöffnete Grenzübergangsstelle und stürmen über die Bösebrücke hinüber nach West-Berlin.

Nach und nach stellen in diesen Minuten auch die anderen Berliner Grenzübergangsstellen ihre Arbeit ein und lassen die Leute einfach in den Westen spazieren. Zwei Minuten nach Mitternacht stehen sämtliche Grenzübergangstellen zwischen den beiden Stadthälften offen. Die Berliner Mauer ist Geschichte.

Panik im Innenministerium der DDR

Der Chef der Hauptabteilung Pass- und Meldewesen, Gerhard Lauter, muss die Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 in seinem Büro verbringen. Es herrscht Panik allerorten: Die amerikanische Botschaft fragt, was los sei an den Berliner Grenzübergängen, die Bezirkschefs der SED wollen wissen, wie sie mit dem neuen Reisegesetz umgehen sollen und ZK- und Regierungsmitglieder erkundigen sich bei Lauter, auf welchen Beschluss die Grenzöffnung überhaupt zurückgehe. Am frühen Morgen des 10. November 1989 erklärt Gerhard Lauter ausführlich im DDR-Fernsehen, was es mit dem neuen Reisegesetz auf sich habe. Aber das kümmert kaum noch jemanden. Die Schlagbäume sowohl an der Berliner Mauer als auch an der innerdeutschen Grenze sind alle geöffnet.  

"Reisegesetz"      

Dabei ist die neue Reisefreiheit zunächst gesetzlich gar nicht geregelt. Was seit dem 9. November 1989 bereits gängige Praxis war, wird erst am 11. Januar 1990 auch offiziell anerkannt. An diesem Tag nämlich verabschiedet die Volkskammer ein Reisegesetz, dass jedem DDR-Bürger das Recht einräumt, jederzeit ins Ausland zu reisen. Im Paragraph 2 heißt es: "Jeder Bürger der DDR hat das Recht, jederzeit in das Ausland zu reisen und zu diesem Zweck einen Reisepass der DDR zu erhalten. Er hat das Recht, jederzeit in die DDR einzureisen."

Von nun an galt für die Bürger der DDR also auch offiziell das Menschenrecht, dass die DDR durch ihren UNO-Beitritt und durch die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki zwar anerkannt, gegen das sie aber immer verstoßen hatte. Am 1. Februar 1990 tritt das "Reisegesetz" schließlich in Kraft.

Dieser Artikel erschien erstmals 2014.

Quellen

"Und im Übrigen: Die Grenze ist auf", FAZ, 09.11.2013; "Sofort bedeutet sofort", SPIEGEL ONLINE, 09.11. 2004.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise: Die unbekannte Einheit | 07. November 2021 | 22:00 Uhr

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