Arbeitsmarktforscher Interview "Unternehmen müssen sich anstrengen, um Ausbildungsplätze zu besetzen"

19. Juni 2023, 05:00 Uhr

Bernd Fitzenberger ist Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Im Interview mit MDR Aktuell beantwortet er Fragen rund um den Mangel an Azubis in Mitteldeutschland.

Lukas Hillmann
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

MDR AKTUELL: Laut Bundesagentur für Arbeit sind in Deutschland aktuell 275.000 Ausbildungsstellen unbesetzt. Gleichzeitig gibt es mehr als 160.000 Bewerberinnen und Bewerber ohne Ausbildungsplatz. Was müssen Unternehmen jetzt tun, um junge Menschen für eine Ausbildung zu gewinnen?

Bernd Fitzenberger: Mann, Ende 50. Er hat graue Haare, blau-graue Augen und trägt eine Brille mit dünnem silbernen Rand.
Der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Bernd Fitzenberger. Bildrechte: Wolfram Murr/Photofabrik

Bernd Fitzenberger: Die große Zahl an freien Ausbildungsstellen zeigt die Erholung des betrieblichen Ausbildungsstellenangebots nach der Pandemie. Dem gegenüber steht aber ein sich fortsetzender Rückgang von Bewerberinnen und Bewerbern seit der Corona-Krise. Das heißt, Unternehmen müssen sich nun anstrengen, um ihre Ausbildungsplätze zu besetzen. Sie müssen auf Jugendliche zugehen, zum Beispiel in Schulen, aber auch durch andere Möglichkeiten der Kontaktanbahnung versuchen, Jugendliche für sich zu gewinnen. Schnupperpraktika sind eine Möglichkeit.

Bis zum Ausbildungsstart ist noch etwas Zeit. Wird sich die Lücke bis dahin schließen?

Sehr viele Ausbildungsplätze werden im Sommer besetzt. Das wird diesen Sommer auch so sein. Aber die Lücke zwischen den Ausbildungsplätzen, die die Unternehmen eigentlich besetzen wollen, und denen, die sie tatsächlich besetzen können, wächst.

In Thüringen gibt es Kreise, in denen es für Unternehmen besonders schlecht aussieht. Im Eichsfeld gibt es aktuell 36 Bewerberinnen und Bewerber auf 100 offene Stellen. Warum sind die Zahlen in Thüringen so schlecht?

In vielen ostdeutschen Flächenländern, insbesondere Thüringen, ist die Demografie dafür verantwortlich. Die Zahl der jungen Menschen, die aus den Schulen kommen und im Arbeitsmarkt eine Ausbildungsstelle suchen, ist sehr gering. Das liegt am Geburtenrückgang, der nach der Wiedervereinigung eingetreten ist. Die Alterung der Erwerbstätigen verstärkt den Effekt. Dementsprechend ist es schwierig für Unternehmen, die freien Ausbildungsstellen zu besetzen.

Durch die Corona-Pandemie hat sich der Mangel an Auszubildenden noch einmal verschärft. Seit wann ist er aber generell zu beobachten?

Vor 15 Jahren hatten wir noch mehr Bewerberinnen und Bewerber als es Ausbildungsstellen gab. Seit 2011 können wir aber einen Wechsel von einem Anbietermarkt zu einem Bewerbermarkt beobachten. Es gab also schon vor der Corona-Pandemie deutlich mehr Stellen als Bewerberinnen und Bewerber. Mit der Krise kam noch hinzu, dass Jugendliche deutlich unsicherer hinsichtlich ihrer Pläne für die Zukunft sind und sich schwerer tun, einen konkreten Berufswunsch zu formulieren.

Welche Berufsgruppen haben es gerade besonders schwer, Nachwuchs zu finden?

Das betrifft besonders das Handwerk. Vor allem die kleinen Baubetriebe haben es gerade schwer. Aber auch Betriebe, die von der Corona-Krise stark erfasst wurden, wie Hotellerie, Gaststätten und personennahe Dienstleistungen, sind betroffen. Die Jugendlichen oder die Eltern, die bei der Entscheidung oft mitwirken, fragen sich: Ist das eine zukunftsträchtige Ausbildung?

Gleichzeitig findet seit längerem eine Verschiebung hin zur schulischen Ausbildung statt – also zur Ausbildung, die nicht in Betrieben stattfindet. Vor allem Gesundheits- und Erziehungsberufe werden so ausgebildet. Es ist gesellschaftlich notwendig, die wachsende Zahl an schulischen Ausbildungsplätzen zu besetzen. Demzufolge werden mehr Jugendliche für diese Ausbildungsform gewonnen – und fehlen im Handwerk.

Ist es ein Problem, wenn bestimmte Berufsgruppen, zum Beispiel das Bäckerhandwerk, aussterben?

Dass bestimmte Berufsgruppen aussterben, ist ein schleichender Prozess. Wir sehen, dass viele kleine Handwerksbetriebe ihr Geschäft aufgeben. Das liegt nicht nur am Azubi-Mangel, sondern am Fachkräftemangel allgemein. In anderen Bereichen bieten Betriebe einen höheren Lohn, unter Umständen sind die Arbeitszeiten und -bedingungen attraktiver. In der Marktwirtschaft würde das dazu führen, dass die Preise für die betreffenden Waren und Dienstleistungen erhöht werden müssten. Kundinnen und Kunden sind nicht immer bereit, den höheren Preis zu zahlen. Das kann in der Tat dazu führen, dass die eine oder andere Tätigkeit in Zukunft nicht mehr existieren wird. Das geht aber nicht zu Lasten der Arbeitsplätze, weil die jungen Menschen hervorragende Chancen haben, in anderen Bereichen tätig zu sein.

Aber wenn nicht genügend junge Klempnerinnen und Klempner ausgebildet werden, kann das doch schon zum gesellschaftlichen Problem werden. Ein Klo können schließlich die wenigsten reparieren, wenn es kaputt ist.

Sicher, da werden die Preise dann weiter steigen. In solchen Branchen werden die Kundinnen und Kunden zahlungsbereiter sein, weil die Leistungen notwendig sind. Außerdem werden sich die Arbeitsbedingungen in solchen Handwerksberufen verbessern müssen, um mehr Menschen für solche Berufe zu gewinnen.

Zusätzlich zum Mangel an Auszubildenden stehen wir vor einer notwendigen ökologischen Transformation. Wie soll diese gelingen, wenn wir keine jungen Menschen haben, die lernen, klimagerechte Häuser zu bauen oder Solaranlagen zu installieren?

Das ist eine riesige Herausforderung. Ähnlich wie bei den Klempnerinnen und Klempnern werden wir eine hohe Nachfrage nach solchen Handwerksleistungen haben. Da das Handwerk nur schwer Personal und Auszubildende gewinnt, können nicht alle Aufträge erfüllt werden. Folglich werden die Preise für die Handwerksdienstleistungen steigen. Wenn es nicht gelingt, den Beschäftigungsstand in diesem Bereich zu sichern, dann wird die Transformation nicht mit der Geschwindigkeit stattfinden, die notwendig oder politisch vorgesehen ist.

Im Zusammenhang mit der Dekarbonisierung und Digitalisierung werden wahrscheinlich viele alte Jobs wegfallen, aber gleichzeitig auch neue entstehen. Kann das denn eine Chance für den Arbeitsmarkt sein?

Das kann eine große Chance sein, weil Dekarbonisierung und Digitalisierung in Folge der notwendigen Investitionen zu Produktivitätsgewinnen und zu Arbeitserleichterungen führen. Viele Routinetätigkeiten und unattraktive Aufgabenbereiche fallen weg. Die Berufsfelder werden spannender, aber auch komplexer – die Ausbildung muss dann nachziehen. Wenn es gelingt, junge Menschen für moderne Berufe zu begeistern, können wir auch mit einem Wohlstandsgewinn und einem attraktiveren Arbeitsumfeld rechnen.

Die Diskrepanz zwischen Qualifizierung der jungen Menschen und Anforderungen der Betriebe ist schon jetzt mitunter groß. Vor allem schlechter ausgebildete Personen finden gerade keine Ausbildung, weil sie nicht in die Profile der Unternehmen passen. Verschärft sich das Problem nicht mit zunehmend komplexer werdenden Berufen?

Wenn es nicht gelingt, Ausbildung und Qualifizierung zu stärken, verschärft sich das Problem. Wenn es aber gelingt, auch jungen Menschen eine Chance zu geben, die in der Vergangenheit nicht als ausbildungsreif eingeschätzt wurden, dann kann das gewinnbringend für alle sein – zumindest für die jungen Menschen. Es ist immer besser, mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung in den Arbeitsmarkt zu gehen als ohne. In einer komplexer werdenden Arbeitsumgebung wird aber auch der Aufwand größer, junge Menschen genau darin zu unterstützen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 19. Juni 2023 | 05:00 Uhr

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