Kolumne: Das Altpapier am 7. März 2025Die Angst vor dem Stempel

07. März 2025, 09:25 Uhr

Hat ein rechtsextremes Motiv weniger Nachrichtenwert als die Nationalität eines Tatverdächtigen? Die Angst vor Stempeln von rechts hat im deutschsprachigen Journalismus gefährliche Effekte. Heute kommentiert Antonia Groß die Berichterstattung.

Das Altpapier"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.


Brennpunkt: Attentate

Was ist eine Nachricht? Eine kurze Frage, auf die es lange Antworten gibt. Eine Frage, auf die die Antworten typischerweise beginnen mit: "In Zeiten von..." oder "Im Zeitalter des...". Es gibt viele Varianten, diese kleine Frage zu beantworten, und sie können in viele Richtungen ausufern. Heute beantworten wir sie mit einer Gegenfrage:

Ist etwas eine Nachricht, nur weil es Hitze produziert?

Denn es gibt zwar knappe, klare Antworten auf diese erste, kleine Frage. Doch Redaktionen entscheiden (ja, Entschuldigung: im postfaktischen Zeitalter des Clickbaiting, des sich zuziehenden Faschismus...) nicht mehr unbedingt nach dem Wert der Nachricht, also nach ihrer Relevanz, ihrem Beitrag zur Meinungsbildung, und so weiter, sondern mit dem Wert, aus dem sich die größte Resonanz abschöpfen lässt. Wobei, Resonanz. Besser ist: Wucht, Empörung, Reaktion. Denn die bedeuten ja Verbreitung, Klicks, und Kohle.

Eine Sparte, die diesen "Wert" oft plakativ erfüllt, ist immer schon die Kriminalität. In jüngster Zeit liefen die deutschsprachigen Medien besonders warm, wenn es um Attentate ging. Diskutiert wurde deshalb auch die Frage, wie darüber berichtet wird. Auch hier, im Altpapier, so wie zuletzt am Mittwoch, nachdem ein weißer deutscher Mann in Mannheim mit einem Auto in eine Menschenmenge raste und zwei Personen tötete.

In einem Interview (€), das am Donnerstag bei "ZEIT Online" erschienen ist, sieht der Medienforscher Thomas Hestermann in der Berichterstattung über Attentate die Spiegelung einer "Fieberkurve der Gesellschaft". Er hat mit seinem Team über die vergangenen 18 Jahre hinweg Daten darüber gesammelt, wie die Presse über Gewalttaten berichtet.

Hestermann erklärt: Früher wurde dann intensiv berichtet, wenn das Opfer "jung, weiblich und deutsch" war. Von Jahr zu Jahr beobachte das Forschungsteam aber, wie die Opfer immer mehr zu Nebenfiguren werden. Heute ginge es primär um die Tatverdächtigen - und deren Nationalität. Beides hat mit dem Kern einer Nachricht nichts zu tun, sondern allein mit dem Erhitzungspotential des Publikums.

Hestermann sagt:

Das klingt furchtbar zynisch, aber in Redaktionen wird oft schnell und intuitiv entschieden: Welche Geschichte erzeugt einen Nachhall?

Das ist oft weniger der Inhalt, wissen wir, sondern Emotionen. Inflationäre Berichte über Gewalt schüren Unsicherheit – mit dem richtigen Framing wird die passende Bedrohung konstruiert:

Ich finde es erstaunlich, wie manche Menschen starke Gefühle offenbar an- und ausknipsen können: flammende Empörung bei ausländischen Tatverdächtigen, Gleichgültigkeit gegenüber deutschen Gewalttätern. Angst ist ein einträgliches Geschäft, sie generiert Klicks, Kommentare, Wählerstimmen. Aber nur negative Emotionen zu bedienen, vergiftet die Gesellschaft. 


Rückblende: Wahlkampf

Ein Rückblick in den gerade zu Ende gegangenen Wahlkampf: Dass die Kandidaten für die Bundestagswahl selektiv mit Attentaten um die Gunst der Wähler*innen kämpften, wurde im Altpapier und an anderer Stellen schon beobachtet.

Eine neue Untersuchung des European Journalism Observatory bestätigt das nun. Ladislaus Ludescher hat dafür die Themen ausgewertet, die die Wahlkampf-Talkshows bestimmt haben: Insgesamt zwölf TV-Sendungen mit einer Gesamtdauer von fast 20 Stunden. Jetzt haben wir es schriftlich, also rechnerisch gesehen: Migration war das Thema Nummer eins. Mit einer Konjunktur nach dem Angriff auf eine Gewerkschaftsdemonstration in München.

Ludescher rechnet vor:

Von den 1.190 Minuten Gesamtsendezeit der zwölf Wahlsendungen entfielen 201 Minuten (16,9 Prozent) auf die Migrationsdebatte, die nahezu vollständig nur in seiner innenpolitischen Bedeutung erfasst wurde.

Wobei "innenpolitische Bedeutung" übersetzt werden müsste in: Die Umdeutung vermeintlicher Migrationsfragen als Sicherheitsrisiko. Alles eine Frage des Framings.

Insgesamt, bemerkt Ludescher, bezogen sich fast 90 Prozent der Sendezeit auf Innenpolitisches. Außenpolitik tauchte fast ausschließlich als Thema "Ukraine-Krieg" auf. Wenn es um andere Länder ging, dann - wieder - fast ausschließlich mit einer Folie von Migration als vermeintlicher Bedrohung:

7 Minuten, also etwa 0,6 Prozent der Gesamtsendezeit beschäftigte sich mit Staaten der MENA (Middle East & North Africa)-Region, vorwiegend mit den Ländern Afghanistan, Syrien und Irak vor dem Hintergrund der Migrationsdebatte. Auf den restlichen Globalen Süden entfielen etwa 2 Minuten bzw. etwa 0,15 Prozent der Gesamtsendezeit [...].

Der Krieg in Gaza und die kriegerische Gesamtlage in der Region wurden "fast vollständig ausgespart". Insgesamt war "der Nahostkonflikt" für ganze eineinhalb Minuten Thema. Neun der zwölf untersuchten Sendungen "vermieden es vollständig", schreibt Ludescher.

Seit der Bundestagswahl hat sich die Themenlage komplett verkehrt. Seit dem öffentlichen Angriff des US-Präsidenten Trump auf den ukrainischen Präsidenten Selenskyi dominiert die Politik(-berichterstattung) mit Aufrüstung, Atombomben, und Abschottung.

Aber die Medien brauchen gar keinen Wahlkampf, um selektiv mit Attentaten umzugehen.


Kein Brennpunkt: Attentate

Zurück zur Berichterstattung über Mannheim. Und dem bereits zitierten Interview, über das der Medienkritiker Stefan Niggemeier auf der Plattform Bluesky schreibt, er möchte "fast jeden Satz unterstreichen". Medienforscher Hestermann attestiert der deutschsprachigen Presse rassistische Gewichtungen, auch er hat hierfür Zahlen:

Wenn die Herkunft genannt wird, dann sind es zu über 80 Prozent ausländische Tatverdächtige, mehr als doppelt so viele wie in der Kriminalstatistik, eine völlige Verzerrung. Die Gewalt von Deutschen wird weitgehend ausgeblendet. 

Aus lauter Scheu aber, sich von rechts den Stempel "links-grün-versifft" einzufangen, berichteten deutsche Medien "über Gewalt eher nach den Deutungsmustern der AfD", sagt Hestermann. Zeitungsberichte ähnelten zunehmend den Pressemitteilungen der im Kern rechtsextremen Partei.

Der Journalismus hat sich von der AfD treiben lassen. Der Druck auf Redaktionen ist enorm. Vor allem der von rechts erhobene Vorwurf, dass Journalisten "die Wahrheit" verschwiegen, hat seine Spuren hinterlassen.

Gilt es als "bewusstes Verschweigen" (Hestermann), wenn nicht über die Gewalt von weißen Deutschen berichtet wird? Könnte man so lesen, wenn der "Monitor"-Journalist Georg Restle in einem Post auf Bluesky mit Verweis auf das Interview kommentiert: "Warum es keinen Brennpunkt in der ARD gibt, wenn der Täter ein Deutscher mit mutmaßlich rechtsextremem Hintergrund ist."


Quellencheck: Antifa

Das "Mutmaßliche" an dem rechtsextremen Hintergrund ist auch Thema beim Podcast @mediasres. Dort spricht im Interview die Deutschlandfunk-Korrespondentin Katharina Thoms über den Erkenntnisstand der Behörden, die bislang keine politische Motivation der Tat bestätigen – und nur auf Nachfrage zusagten, in diese Richtung zu ermitteln. Die Plattform "Exif Recherche" hat am Tag nach der Tat Fotos und Informationen über den Täter veröffentlicht, die seine Aktivitäten in Neonazi-Kreisen nahelegen.

Aus Mediensicht wichtig ist im Interview aber die explizite Frage nach der Glaubwürdigkeit von "Exif" als Quelle. Moderator Sören Brinkmann:

"Welche Rolle spielt, dass diese Recherchen [...] von einer Plattform kommen, die sich selbst als [...] unabhängige, antifaschistische Rechercheplattform bezeichnet?"

Implizit steckt in dieser Frage Skepsis – sie muss nicht einmal erläutert werden: Eine Antifa-Quelle sei mit Vorsicht zu behandeln. Ist da wieder die Angst vor dem Stempel? Thoms reagiert nüchtern:

"Es gibt ja viele solcher Recherchegruppen, und man weiß oft nicht, wer steckt dahinter. Das hat auch einen guten Grund, denn oft dokumentieren diese Gruppen Veranstaltungen oder Treffen in der rechtsextremen Szene. Das kann sehr gefährlich werden, und aus dem Grund ist man da anonym. Und man ist da auch jetzt nicht unbedingt dem Pressekodex unterworfen. Aber das macht die Sache so schwierig. Nichtsdestotrotz wird da Vieles dokumentiert, was andere Medien teilweise auch gar nicht abdecken."

Medien greifen in Berichten über rechte Netzwerke immer wieder auf antifaschistische Recherchen zurück. Dass Journalist*innen dabei nicht immer wissen, wer genau die Informationen beschafft hat, und sie deshalb Infos gegenchecken müssen, ist richtig. Auch, dass sie die Quelle ihrer Information benennen sollten. Eben genau wie bei jeder anderen Quelle.

Wobei - es gibt Quellen, die sollten besser keine sein. Etwa solche, für die belegt ist, dass sie Falschinformationen verbreiten, von verschwörerischen Agenden getrieben oder rechten Financiers unterhalten sind. Dennoch scheint die Angst vor einem solchen Stempel bei manchen Medien weniger verbreitet. Etwa die, die Berichte des Onlineportals "Apollo" aufgreifen. Laut einer Recherche des "medium magazins" müsste das die "Welt", "Bild", "Berliner Zeitung", den "Cicero", vereinzelt auch die NZZ betreffen.

In der neuen Ausgabe beschreiben Chefredakteur Frederik von Castell und die freie Journalistin Veronika Völlinger die Geschichte von "Apollo" auf, einer tendenziösen Plattform, geführt von einer Gruppe junger Rechter, die eine Grundausbildung in Wutschleuderei durchlaufen zu haben scheinen. Sie bezeichneten sich zwar selbst als Redaktion, doch im Gespräch mit dem Gründer wurde nicht klar:

"ob "Apollo" zwischen journalistischem Handwerk und journalistisch anmutendem Sound unterscheidet – und ob das für den Chef überhaupt einen wesentlichen Unterschied ausmacht."

Sie haben nicht nur bei Tichy oder Reichelt, den Lautesten der rechten "Alternativmedien"-Machern gelernt, sondern sie auch in ihrer Reichweite überholt:

Laut einer aktuellen Analyse [von CeMAS] werden "Apollo"-Links in deutschsprachigen verschwörungsideologischen und rechts­extremen Telegram-Kanälen und -Gruppen inzwischen häufiger geteilt als jene von "Nius", "Junge Freiheit" und "Tichys Einblick" (TE). Alternativmedien, die "Apollo" häufig selbst zitieren.

Der Beitrag im "medium magazin" zeigt an Beispielen von Artikeln des neurechten Onlineportals vor allem eines - die Methode, die "Apollo" nutzt: Fakten weglassen, Kontext anpassen, Reibung erzeugen. Und das dann Journalismus nennen.

Ist etwas eine Nachricht, nur weil es Hitze produziert?



Altpapierkorb (Zimmer beim Spiegel / Röwekamp verweigert Interviews / Grimme Preis)

+++ Die stellvertretende Chefredakteurin des "Spiegel", Melanie Amman, hat laut Recherchen der taz eine Wohnung über das Geschäft eines Wohnungsunternehmers, der gleichzeitig ein alter Bekannter sei, teuer vermieten lassen. Die taz wirft Amman Intransparenz im Umgang mit dieser Geschäftsbeziehung vor – denn im "Spiegel" sei ein wohlwollender Bericht über den Unternehmer erschienen. Auch die FAZ greift die Geschichte auf, die "Welt" sieht den Artikel kritisch.

+++ Der CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Röwekamp verweigert Radio Bremen bereits seit Jahren Interviews. Denn – Achtung, Stempel! - Radio Bremen sei "weder überparteilich noch unabhängig, sondern Teil der linksgrünen Meinungsbildung". Die taz berichtet und zieht eine Parallele zu der Debatte um die kleine Anfrage der Unions-Fraktion zur Gemeinnützigkeit von NGOs.

+++ Der Grimme Preis ist verliehen und zum ersten Mal (seit 1964) haben ausschließlich Serien die Auszeichnung in der Kategorie "Fiktion" erhalten. Was ist nur los mit dem deutschen Fernsehfilm?, fragt epd medien.

Das Altpapier am Montag schreibt Klaus Raab.