Kolumne: Das Altpapier am 13. März 2025Warum noch wach?
Der Fall Gelbhaar zeigt, wie schwer es ist, über Grenzüberschreitungen zu berichten. Und: Warum haben migrantische Attentäter so gute Chancen auf eine mediale Begleitung? Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
Das Altpapier"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Berichte aus der Grauzone
Die "Süddeutsche Zeitung" hat am Mittwoch einen sehr langen Beitrag veröffentlicht (27 Minuten Lesezeit), der sich mit dem Fall Stefan Gelbhaar beschäftigt (Altpapier). Lena Kampf, Vivien Timmler und Ralf Wiegand haben die "Chronologie eines Grenzfalls" recherchiert – so steht es im Titel –, in dem es auch um die Vorwürfe geht, die durch die falsche Beschuldigung unter den Tisch gefallen waren.
Einige Frauen haben der Zeitung geschildert, dass Gelbhaar sich über Jahre immer wieder unangemessen verhalten habe – dass er geflirtet oder anzügliche Nachrichten geschrieben habe, dass er Frauen körperlich zu nah gekommen sei. Gelbhaars Anwälte weisen das alles zurück. Im Text heißt es:
"Die geschilderten Erfahrungen der Frauen, die mit der SZ gesprochen haben, fallen in den Zeitraum von 2008 bis Ende 2024. Sie berühren Fragen von ungleicher Macht, Status und Einfluss und beschreiben, sofern sie zutreffen, ein Verhalten, das heute in vielen Unternehmen wohl die Compliance-Abteilung beschäftigen dürfte: Junge weibliche Grüne anflirten, ihnen Komplimente machen, bis manche sich bedrängt fühlen. Nicht jemandes ausgestreckte Hand ergreifen, die zu einem politischen Erfolg gratulieren will, sondern die Frau an sich ziehen und ihr einen Kuss auf den Hals geben. Die Hand auf das Bein einer Sitznachbarin bei einer Parteiveranstaltung legen, weil man über sie hinweg einer anderen Person ein Taschentuch reicht. Auf Instagram spätabends eine Nachricht schreiben mit der Frage: 'Warum bist du überhaupt noch wach?'"
Die Frage erinnert an den Titel von Benjamin von Stuckrad-Barres Schlüsselroman "Noch wach?", der Julian Reichelts Eskapaden bei Springer aufarbeitet. Auch da hatte die Hauptfigur nachts solche Nachrichten geschrieben. Auch da ging es um Macht, Abhängigkeiten und Unbehagen.
Nur im Fall Gelbhaar ist alles viel unklarer. In den Vorwürfen, die ihm gemacht werden, ist nicht von sexuellen Beziehungen die Rede, sondern von Vorfällen, die Gelbhaar laut den Schilderungen teilweise gar nicht bemerkt haben will.
Zu einem Gegenstand für eine Berichterstattung werden solche Ereignisse erst, wenn sich ein Muster abzeichnet. Die Berichterstattung ist in jedem Fall eine sehr große Kanone, denn über Vorwürfe dieser Art zu berichten, ohne jemanden vorzuverurteilen, ohne dass später etwas hängenbleibt, das ist kaum möglich.
In Gelbhaars Fall kommt noch etwas anderes hinzu: Wäre es allein darum gegangen, dass mehrere Frauen behaupten, er habe sich über einen längeren Zeitraum immer wieder grenzüberschreitend verhalten, hätte man ihn möglicherweise bei der Bundestagswahl nicht mehr aufgestellt, aber dann wäre die ganze Sache eine regionale Meldung geblieben.
Durch die falschen Anschuldigungen wurde der Fall zu einem Medienskandal, der die eigentlichen Vorwürfe zunächst überdeckte, der aber nun auch die Frage aufwirft: Worum ging es denn in Wirklichkeit?
Das öffentliche Interesse an diesem Fall hat damit zur Folge, dass überregionale Medien Vorwürfen ein Maß an Aufmerksamkeit geben, das sich ohne die falsche RBB-Berichterstattung kaum rechtfertigen ließe.
Man könnte sagen: Weil der RBB im ersten Schritt einen katastrophalen Fehler gemacht hat, muss Stefan Gelbhaar nun auch im zweiten Schritt hinnehmen, dass bundesweit über Dinge berichtet wird, die sonst allenfalls auf einer Berliner Regionalseite stehen würden.
Und sollte es tatsächlich so sein, dass jemand in der Partei das Gefühl hatte: Wir haben nicht so viel in der Hand, dass wir Gelbhaar loswerden, dann denken wir uns eben etwas aus, dann zeigt sich hier auch, wie das gleich in mehrere Richtungen nach hinten losgehen kann.
Falsche Anschuldigungen diskreditieren das generelle Bemühen, Fälle von sexueller Belästigung ans Licht zu bringen. Und hier erkennt man, wohin es gedanklich führen kann, wenn die Chefin der Grünen Jugend sagt, die Unschuldsvermutung gelte vor Gericht, aber nicht in der Partei. Dann kann sich in der Fortführung des Gedankens das Gefühl ergeben, dass es nicht darum geht, Vorwürfe aufzuklären, sondern einfach darum, einen schon feststehenden Täter um der vermeintlich guten Sache willen mit gezinkten Vorwürfen zu überführen. Das ist dann Selbstjustiz.
Der RBB hat mit seiner Berichterstattung über falsche Vorwürfe ebenfalls viel Schaden angerichtet. Auch das Vertrauen in die Berichterstattung über Fälle von sexueller Belästigung hat nach so einem Debakel Brüche, denn da ist immer auch der Gedanke: Am Ende ist es möglicherweise doch alles ausgedacht.
Was in der Berichterstattung schiefgelaufen ist, steht in einem Bericht, den die Beratungsgesellschaft Deloitte zusammen mit dem früheren NDR-Investigativchef Stephan Wels geschrieben hat. Das Papier liegt seit einer Woche beim RBB auf dem Tisch, wird aber vorerst nicht veröffentlicht. Laut RBB-Sprecher Justus Demmer aus datenschutz- und arbeitsrechtlichen Gründen, berichtet unter anderem "epd Medien".
Stefan Gelbhaar fordert vom Sender eine Entschädigung in Höhe von 1,7 Millionen Euro. Michael Hanfeld schreibt auf der FAZ-Medienseite:
"Dem Sender erscheint die Summe 'unangemessen‘ hoch. Was 'angemessen‘ ist, wird sich vor Gericht erweisen. Welche internen Konsequenzen der RBB für 'angemessen‘ hält, wissen wir hoffentlich bald auch. Es gehe darum, 'neben individuellen Fehlern mögliche Schwächen in den organisatorischen und redaktionellen Abläufen offenzulegen‘, hieß es, als die Gutachter mit der Aufklärung des RBB-Gelbhaar-Skandals beauftragt wurden. An dieser Vorgabe wird der Sender gemessen."
Priming Time: Schlagzeilen mit Schlagseite
Bislang war es eine gefühlte Wahrheit, dass Medien sich mehr für Attentate oder Anschläge interessieren, wenn der mutmaßliche Täter – es sind ja fast immer Männer – einen Migrationshintergrund hat. Jetzt kommt auch eine quantitative Untersuchung von Buzzfeed und der Ippen-Medien-Gruppe zu diesem Schluss.
"Das Ergebnis ist schlagend. Über Magdeburg erschienen 1035 Beiträge, über München 951, über Mannheim aber nur 489, also nur etwa halb so viele",
schreibt Sonja Zekri auf der SZ-Medienseite. Die Berichterstattung über Gewaltverbrechen hat danach ordentlich Schlagseite. Sie folgt oft einem einfachen Muster. Das heißt: Medien berichten vor allem dann, wenn ein Ereignis ins Muster passt. Das Muster ist hier: muslimischer Täter. Oder wie Sonja Zekri schreibt:
"Die größten Chancen auf intensive mediale Begleitung haben migrantisch-muslimische Täter."
Aber wie kommt das? Zekri:
"(…) Journalisten sind schon qua Beruf empfänglich für Stimmungen, gesellschaftliche Klimaveränderungen, und dass sie diese umgekehrt dann selbst verstärken, gehört zu den immer wieder kritisch zu befragenden Ambivalenzen des Metiers."
Es scheint so etwas wie eine Sensibilisierung stattgefunden zu haben, eine Art Priming. Das ist ein psychologischer Effekt, bei dem bestimmte Reize beeinflussen, wie Menschen spätere Reize oder Informationen wahrnehmen und bewerten. So kann es passieren, dass bei Anschlägen die Geschichte klar erscheint, bevor irgendwelche Fakten bekannt sind.
Auch verwandte Effekte spielen möglicherweise eine Rolle. Die selektive Wahrnehmung etwa. Menschen nehmen vor allem die Informationen auf, die ihren Erwartungen entsprechen. Widersprüchliche oder unerwartete Informationen blenden sie aus. Oder der [Bestätigungsfehler]. Menschen nehmen vor allem die Informationen wahr, die ihren Überzeugungen entsprechen.
Tatsächlich sind die Situationen oft sehr viel komplexer, als es erscheint. Wenn die Opfer Migranten sind, geht das in der Berichterstattung schnell unter. In München sei die getötete Mutter eine algerischstämmige Ingenieurin gewesen, in Mannheim habe der pakistanischstämmige Taxifahrer A. Mohammed den Täter gestoppt, schreibt Sonja Zekri.
In Magdeburg sympathisierte der Täter, ein saudischer Schiit, mit der AfD und rechten Kreisen. Auch das war in der Berichterstattung eher ein Randaspekt. Das alles deutet darauf hin, dass hier Medienmechaniken wirken, die zu einer verzerrten Darstellung führen.
Teilweise sind das die üblichen Boulevardmechanismen. Dem Boulevard und am Boulevard orientierten Medien – das sind alle, die auf Klickzahlen schauen – geht es darum, eine gute Geschichte zu erzählen. Und das ist eine Erzählung, die Emotionen anspricht, verstärkt und so viele Menschen erreicht.
In dieser Logik macht es eine Geschichte besser – ja, das klingt schaurig –, wenn Deutsche unter den Opfern sind, denn so entstehen Nähe, Identifikation und damit Betroffenheit. Geht es um die Täter, ist das umgekehrt. Dann ist alles, was fremd klingt, ein besserer Verstärker für Angst und Schrecken.
Diese Geschichten bedienen wie zufällig genau die Erzählung, die von Parteien aus dem rechten Spektrum verbreitet werden. Sie scheinen sie zu bestätigen. Ein Zufall ist das allerdings nicht.
Nur, was kann man tun? Man kann zum Beispiel das Schema in Frage stellen, in dem hier gedacht wird. Von scharf rechts wird suggeriert, dass die deutsche Bevölkerung bedroht sei und die Gefahr von Migranten ausgehe. Die alte völkische Erzählung. Aber ist das wirklich die richtige Trennlinie?
Sonja Zekri schreibt:
"Wer die Liste tödlicher Anschläge um Hanau und Halle erweitert, um den Mord an Walter Lübcke und die Morde des NSU, wer in Rechnung zieht, dass die Zahl rechtsextremer Gewalttaten steigt und steigt, der entdeckt möglicherweise ein anderes Ordnungsmuster: jenes von Menschen, die in diesem Land friedlich zusammenleben möchten, und ihren Feinden."
Altpapierkorb (Meinungsfreiheit, Trump und die Presse, Grönland, 551 Fragen, WDR-Tarifvertrag, Ippen täuscht, Rundfunkfinanzierung)
+++ Die Debatte um Meinungsfreiheit hat sich gewandelt: Während lange Zeit vor allem Linke für Cancel-Culture verantwortlich gemacht worden seien, gehe die Bedrohung nun von rechts aus und sei ungleich mächtiger, schreibt Paul Middelhoff auf der Titelseite der aktuellen "Zeit"-Ausgabe. Die Diskurshoheit der progressiven Identitätspolitik sei gebrochen, an ihre Stelle trete eine neue, autoritäre Einschränkung der Meinungsfreiheit. Ähnlich sieht es Ex-Altpapier-Autor Matthias Dell. In seiner Kolumne für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" sagt er, die alte Erzählung, dass eine linke Sprachpolizei das freie Wort bedrohe, habe sich als mächtige Nebelkerze erwiesen. Diese Erzählung habe lange von der realen Gefahr durch rechte Angriffe auf Demokratie und Meinungsfreiheit abgelenkt.
+++ Amrai Coen schreibt für die "Zeit" über den Wandel im Umgang mit der Presse, der sich im Weißen Haus gerade vollziehe. Kritische Medien würden gezielt ausgeschlossen, während regierungsfreundliche Medien, die Trumps Krawatten loben, bessere Chancen hätten. Coen: "Wenn Karoline Leavitt im Presseraum über die Medien spricht, dann teilt sie sie in zwei Gruppen: 'legacy media', altgediente Medien, und 'new media‘, neue Medien. Sie spricht es nicht explizit aus, aber man hört es: Die legacy media sind der Feind. Die neuen Medien sind der Freund."
+++ ZDF-Korrespondent Henner Hebestreit erzählt im Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" von seiner Reise nach Grönland, das wegen Donald Trumps Annexionsfantasien im Moment viel Aufmerksamkeit bekommt und sich damit in einem notorischen Zyklus befindet, den Hebestreit im Gespräch so erklärt: "Wir haben irgendeinen Fokus in der Welt und da springt man dann drauf. Und da wird zwei Wochen von allen Seiten darüber berichtet. Man beleuchtet jeden Stein von allen Seiten. Und dann passiert in einem anderen Winkel der Welt etwas und der Ort, an dem man gerade ist, der verschwindet dann wieder."
+++ Die Bundesregierung hat die Vorwürfe der CDU/CSU gegen gemeinnützige Organisationen zurückgewiesen und betont, dass diese laut Bundesfinanzhofsurteil auch politisch aktiv sein dürfen, berichtet "epd Medien". Die Unionsfraktion hatte in einer parlamentarischen Anfrage die Gemeinnützigkeit von Gruppen wie Correctiv, Netzwerk Recherche und Greenpeace infrage gestellt und dabei 551 Fragen zu staatlicher Förderung und politischen Aktivitäten gestellt. Die 83-seitige Antwort der Regierung fällt in vielen Detailfragen knapp aus. Sie sei nicht für die Überwachung solcher Organisationen zuständig, heißt es. Die Allianz "Rechtssicherheit für politische Willensbildung” nannte die Regierungsantwort "ein Lehrstück in Rechtsstaatlichkeit für CDU und CSU" für die Union.
+++ Nach 436 Tagen Verhandlungen haben sich der WDR und die Gewerkschaften DJV, Verdi und Unisono auf einen neuen Tarifvertrag geeinigt, meldet Uwe Mantel für das Medienmagazin DWDL. Die Gehälter der Festangestellten steigen rückwirkend zum 1. Januar 2025 um knapp fünf Prozent und Anfang 2026 um etwas mehr als ein weiteres Prozent. Für freie Mitarbeiter werden die Honorarsätze ab September 2025 um knapp fünf Prozent und Anfang 2026 um etwas mehr als ein Prozent angehoben. Außerdem erhalten Beschäftigte Einmalzahlungen von bis zu 4.700 Euro für Festangestellte und 4.200 Euro für Freie. Die Gremien müssen die Einigung noch genehmigen.
+++ Die von der Ippen-Zentralredaktion betriebene Website der "Frankfurter Rundschau" nutzt fragwürdige Methoden der Suchmaschinenoptimierung (SEO), indem alte Artikel regelmäßig mit aktualisierten Veröffentlichungsdaten neu veröffentlicht werden, schreibt Ex-Altpapier-Autorin Annika Schneider für "Übermedien". Als Beispiel nennt sie einen zwei Jahre alten Beitrag über Wladimir Putins mögliche Nachfolge, der immer wieder als neu ausgegeben werde. Diese als "Republishing" bekannte Praxis täusche sowohl Leserinnen und Leser als auch Google. Sie diene dazu, eine hohe Platzierung in den Suchergebnissen zu sichern.
+++ Die Ministerpräsidentenkonferenz ist sich über die Reform der Rundfunkfinanzierung noch immer nicht einig, berichtet "epd Medien". Daher sei ungewiss, ob ein neues Finanzierungsmodell komme. Bayern und Sachsen-Anhalt verweigerten weiter ihre Zustimmung, solange ARD und ZDF ihre Klagen gegen die ausgebliebene Beitragserhöhung nicht zurückzögen. Die Sender hatten das Bundesverfassungsgericht angerufen, nachdem die Länder eine von der KEF empfohlene Erhöhung des Beitrags um 58 Cent abgelehnt hatten.
Morgen schreibt Klaus Raab das Altpapier.