Kolumne: Das Altpapier am 28. Januar 2025 Ein kaputtes Geschäftsmodell
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28. Januar 2025, 09:46 Uhr
"Medienpolitischer Paukenschlag", "Meilenstein", "Signalwirkung": In der Schweiz fiel in erster Instanz ein Urteil gegen einen hart an der Zulässigkeitskante segelnden Boulevardjournalismus. Nicht ausgemacht ist, was es für den deutschen Boulevard bedeutet. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Spiess-Hegglin gewinnt gegen Ringier
Dass die Anwältin der Klägerin nach einem gewonnenen Prozess von einem "Meilenstein" spricht, wäre allein noch nicht zwangsläufig eine Nachricht. Aber es ist nicht sie allein, die große Worte findet. "Ein wirklich spannendes Urteil", schrieb gestern Armin Wolf vom österreichischen ORF bei BlueSky. "Ein medienpolitischer Paukenschlag", befand die Schweizer "Wochenzeitung", besser bekannt als WOZ. Die "Süddeutsche Zeitung" titelt online (Abo) über ihrem Medienseitenaufmacher: "Dieses Urteil könnte den Boulevardjournalismus verändern". Und Karl-Nikolaus Peifer, Direktor des Instituts für Medienrecht und Kommunikationsrecht an der Universität Köln, wird bei zeit.de (Abo) zitiert: "Dieses Urteil hat Signalwirkung."
Die Rede ist vom Urteil im – nochmal zeit.de – "wichtigsten Prozess der jüngeren Schweizer Mediengeschichte". Am Montag wurde es gesprochen. Es geht dabei um die Berichterstattung der bei Ringier erscheinenden Boulevardzeitung "Blick" über das Geschehen auf einer Feier vor knapp zehn Jahren, an der die damalige Grünen-Politikerin Jolanda Spiess-Hegglin teilnahm. Am Tag danach hatte sie sich wegen Gedächtnislücken und Unterleibsschmerzen ärztlich untersuchen lassen. Zu spät, um etwa K.O.-Tropfen nachzuweisen. Die Möglichkeit eines Sexualdelikts in Verbindung mit verabreichten Drogen stand aber im Raum. Gefunden wurde die DNA eines SVP-Politikers, der Vorwürfe bestritt; ein Verfahren gegen ihn wurde nach einigen Monaten eingestellt (knappe Zusammenfassung auf tagesschau.de).
Was damals geschehen ist, ist bis heute nicht geklärt. Die Berichterstattung aber war ausufernd, sehr prominent, sorgte wohl für viele Klicks, damit auch für Einnahmen – und verstieß in weiten Teilen
"massiv gegen das Persönlichkeitsrecht von Spiess-Hegglin. Sie ist nicht selbst mit dem Fall an die Öffentlichkeit gegangen; sie hat der Veröffentlichung nicht zugestimmt; sie hat den SVP-Politiker nicht beschuldigt",
schrieb "Übermedien" im Oktober über den Fall. In einem Nachtrag heißt es dort seit gestern nun zum Urteil:
"Das Kantonsgericht in Zug hat den Medienkonzern Ringier dazu verurteilt, Johanna Spiess-Heggelin umgerechnet rund 325.000 Euro zuzüglich Zinsen zu zahlen. Auf diese Summe hat das Gericht den Gewinn geschätzt, den der Konzern in den Jahren 2014 und 2015 mit vier Artikeln gemacht hat, mit denen er das Persönlichkeitsrecht der früheren Schweizer Kommunalpolitikerin verletzte."
Der Medienkonzern wurde also verurteilt, die Gewinne herauszugeben, die er mit vier ausgewählten unzulässigen Texten in seiner Boulevardzeitung "Blick" erzielt hat. Es geht damit in dem Fall nicht (nur) um eine Schadensersatzzahlung. Es geht um die Herausgabe des mit den Artikeln erzielten Gewinns, der dafür berechnet werden musste. Ringier war zuvor vom Gericht verpflichtet worden, entsprechende Informationen offenzulegen.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Ringier ("Betrag entbehrt jeder faktischen Grundlage",
"Urteil gefährdet Medienfreiheit und journalistische Überwachung der Mächtigen") hat angekündigt, es anzufechten. Dennoch lässt sich die über den Fall hinausweisende Bedeutung festhalten: Es stellt ein Geschäftsmodell infrage, das die Verletzung von Persönlichkeitsrechten belohnt. Der Chefredakteur der "Neuen Zürcher Zeitung" wurde schon vor Längerem mit der Prognose zitiert, "das wäre ein scharfes Schwert." Weil es, so "die "FAZ" (Abo) heute, "ins Geld" geht.
Eine Frage ist, ob sich das Urteil auf Deutschland übertragen lässt. In der Schweiz sei die Gesetzeslage besonders günstig, um eine solche Gewinnherausgabe durchzusetzen, heißt es im oben verlinkten "Übermedien"-Text. Der oben zitierte Medienrechtler Karl-Nikolaus Peifer allerdings, schreibt zeit.de, rechne im ganzen deutschsprachigen Raum mit einer Klagewelle. Allerdings relativiere er den Effekt. Im Fall von Jolanda Spiess-Hegglin seien die Persönlichkeitsverletzungen gravierend, und es brauche für solche Klagen spezialisierte Anwälte und entsprechende Ressourcen. Dennoch: Es ist ein Urteil gegen einen hart an der Zulässigkeitskante segelnden Boulevardjournalismus.
"Tagesschau"-Kritik in 3, 2, 1
Egal, was man über die "Tagesschau" sagen möchte: Es muss offenbar in genau drei Stichpunkten mitgeteilt werden. "Angepasst. Aktivistisch. Abgehoben" steht schwarz auf Gelb auf dem Cover des Buchs "Inside Tagesschau" des ehemaligen "Tagesschau"-Mitarbeiters Alexander Teske. Und mehrere Redaktionen, die in den zurückliegenden Tagen das Buch thematisiert haben, von dem auch hier vergangene Woche schon die Rede war, schlagen ebenfalls einen Dreiklang an:
- "Elitär, unausgewogen, aktivistisch" zitierte der "Tagesspiegel" Teskes Kritik
- "Links, elitär, tendenziös" steht, ohne Anführungszeichen, bei Focus Online in der Überschrift über einem Artikel zum Buch.
- "Autonome Szene", "Machtmissbrauch", "Klima der Angst" steht bei "Nius".
- Und die "Zeit" (Abo) schrieb über Götz Hamanns Rezension, das Buch sei "Illoyal, fragwürdig und trotzdem interessant"
Jede und jeder kann sich aus solchen Listen wie immer das Passende zur Bestätigung der eigenen Position aussuchen; es ist ein freies Land. Wer allerdings tatsächlich an einer Auseinandersetzung mit Teskes Kritik interessiert ist, wird um Hamanns Text schwerlich herumkommen. Er schreibt:
"Es ist ein handwerklich äußerst fragwürdiges Buch. (…) Was Teske schreibt, ist in erheblichen Teilen nicht überprüfbar. Die Leser bekommen tausend und abertausend Details geboten, für die es keine Belege gibt. Sind es Fakten? Sind es Behauptungen? Und ist es nicht seltsam, dass der Autor, der nach eigenen Angaben sechs Jahre in der Redaktion gearbeitet hat, immer wieder wörtlich aus internen Sitzungen und Gesprächen zitiert? Hat er sich die ganze Zeit über Notizen gemacht? Hat er ein unfassbares Gedächtnis? Oder haben die Zitate etwas Halbliterarisches?"
Das heißt nicht, dass Teskes Kritik an der "Tagesschau" nicht stichhaltige oder diskussionswürdige Punkte haben kann. Auch Hamann bügelt keineswegs alles ab. Aber überzeugend klingt schon vor allem seine Methodenkritik. Er kritisiert, das Buch hinterlasse
"den Eindruck, dass es strukturelle Schwächen verdichtet und dadurch zu groß erscheinen lässt. Unter der Lupe werden Nuancen zu krassen Unterschieden. Verwandelt sich das Fehlen einzelner Beiträge in gähnende Löcher in der Berichterstattung. Folgen aus biografischen Prägungen unmittelbar empörende Verzerrungen der Wirklichkeit."
Politiker in Medien und die "Schere im Kopf"
Es ist schon ein paar Jahre her, dass eine aus heutiger Sicht naive Hoffnung kommuniziert und hier und da diskutiert wurde: Wenn wir mit dem Internet ein Archiv haben, aus dem nichts so leicht verschwindet, in dem viel Unfug dauerhaft festgehalten wird und durch das in Echtzeit jede dahergelaufene Äußerung geleitet und hochgejazzt werden kann – dann braucht es den guten Willen und die konstruktive Kultiviertheit, auch mal über eine Schrägheit oder Ungenauigkeit hinwegsehen zu können. Zu verzeihen. Eine Mücke eine Mücke sein zu lassen. Weil, wo soll das sonst hinführen?
Die Realität heute allerdings heißt "Schere im Kopf". So steht’s in Peer Schaders dwdl.de-Kolumne, in der er sich mit der medialen Performance von Ricarda Lang beschäftigt, die sich – so haben es ja viele beobachtet – leichter mit Fernsehauftritten tut, seit sie nicht mehr Parteivorsitzende der Grünen ist.
"Die 31-Jährige wirkt wie verwandelt, seitdem sie nach den verkorksten Landtagswahlen im Osten die Konsequenzen gezogen und ihre bisherige Verantwortung abgegeben hat – ohne sich deswegen aus der medialen Öffentlichkeit zurückzuziehen",
schreibt auch Schader, dem es aber vorrangig um deren Mechanismen geht:
"Man muss als Gastgeber:in nur immer kurz weghören, wenn Lang erklärt, wen sie auch in die Pflicht dafür nimmt, dass diese vielgelobte Verwandlung erst nach dem Rückzug vom Spitzenamt möglich war: die Medien und ihre Mechanismen, über Politik zu berichten."
Von "Skandalisierungsfurcht" spricht Lang, und Peer Steinbrück, bekannt als Kanzlerkandidat mit Mittelfinger (allerdings eigentlich ja auch mit Kussmund und Herzballon), wird auch zitiert:
"Die ‚wachsweichen Sprechblasen‘ seien auch der verzweifelte Versuch, sich gegen die Empörungswellen in den sozialen Medien zu immunisieren: ‚Formuliere so unkonkret wie möglich, damit du durchkommst.‘"
Interessanter, weil insgesamt viel weniger Reflexion dorthin fließt, ist aber gerade im Wahlkampf der umgekehrte Blick – der auf Medien; und gemeint sind hier explizit nicht nur die sogenannten sozialen. Peer Schader:
"Was Lang und Steinbrück beschreiben, ist mehr als nur ein Kommunikationsproblem: Es ist eine systematische Dysfunktion zwischen Politik und Medien. Je mehr virale Momente und klare Gewinner-Verlierer-Narrative an Bedeutung gewinnen, desto schematischer agieren Politiker:innen – was wiederum das Vertrauen der Bürger:innen in sie untergräbt. Das Ergebnis ist offensichtlich ein nur noch schwer zu durchbrechender Teufelskreis aus medialem Druck und politischer Selbstzensur. (…) Ein System, das Politiker:innen in eine permanente Rechtfertigungshaltung zwingt und jedes unbedachte Wort sofort gegen sie verwendet, trägt erhebliche Mitschuld am voranschreitenden Vertrauensverlust in die Politik."
Altpapierkorb (TV-Duell bis -Quadrell, "Wahlarena" des SWR, Merz beklagt "Entgleisung")
+++ Das Theater um die Besetzung der sogenannten TV-Duelle geht noch weiter. Wie nennt man ein Duell von vier Personen? Quadrell? Unionskandidat Merz schwebt jedenfalls eine solche Fernsehrunde vor, in der er nicht nur mit Olaf Scholz diskutiert, sondern auch mit Robert Habeck und Alice Weidel. Das hat er dem Medienhaus WMH gesagt, zu dem etwa die "Westfälischen Nachrichten" gehören (via Deutschlandfunk). RTL hat quasi eingeschlagen, ARD und ZDF nicht (tagesspiegel.de).
+++ Ob das BSW in eine "Wahlarena" des SWR eingeladen wird, wie die Partei es fordert, ist noch nicht gewiss. Das berichtet "epd Medien": "Der Südwestrundfunk (SWR) will einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart zur Teilnehmerrunde bei der Vorwahlsendung ‚Wahlarena‘ nicht akzeptieren. Der Sender teile die Rechtsauffassung des Gerichts nicht und werde ‚sehr zeitnah‘ Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg einlegen". Das Gericht hatte bemängelt, dass der SWR nicht das BSW, wohl aber die FDP einladen wolle, obwohl die bundesweiten Wahlumfragen eine unterschiedliche Behandlung so nicht hergäben. Die FDP ist allerdings, so eines der Argumente der ARD-Anstalt, Teil der Landesregierung im SWR-Gebiet Rheinland-Pfalz.
+++ Die Nervosität der Parteien im Wahlkampf ist greifbar, und Journalistinnen und Journalisten können sich der Dynamik aber wohl auch kaum entziehen. Vor allem seit die Union unter Friedrich Merz mit riskanten Mitteln, deren Einsatz nicht einmal ein konservativer Kolumnist wie Nikolaus Blome nachvollziehen zu können scheint (spiegel.de, Abo), auf ein schärferes Grenzregime drängt, ist der Ton rauer geworden. Dass ein Journalist, der unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung" arbeitet, auf seinem eigenen Social-Media-Account (also nicht dem der Zeitung) Merz als "Führer" bezeichnet hat, machte gestern die große Runde, nachdem Merz selbst es eine "Entgleisung" genannt hat. Die "SZ" hat sich distanziert. "FAZ" (via dpa) und natürlich auch andere berichten.
Am Mittwoch schreibt das Altpapier Christian Bartels.