Kolumne: Das Altpapier am 26. März 2025: Porträt des Altpapier-Autoren Ben Kutz 5 min
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Kolumne: Das Altpapier am 25. April 2025 Lügen haben lange Leinen

25. April 2025, 10:33 Uhr

Lügen bleibt erlaubt. Und sollte auch nie verboten werden, obwohl zahlreiche deutsche Medien das Gegenteil behauptet haben. Auch heute zeigt sich: Der Grad zwischen Alarmieren und Alarmismus war nie breit. Ein Altpapier von Ben Kutz.

Porträt des Altpapier-Autoren Ben Kutz
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Die Meinungsfreiheit ist bedroht…

Wie es um die Meinungsfreiheit in Deutschland steht, wird mittlerweile ja auch in internationalen Blättern besprochen (zuletzt AP gestern). Hintergrund ist der relativ neue Paragraph 188 im Strafgesetzbuch, nach dem "Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens" eine Straftat ist.

Kollege Christian Bartels hat gestern den medialen Konsens zusammengefasst, dass der Paragraph der Meinungsfreiheit tatsächlich nicht sonderlich guttut. Das "offene, gesellschaftliche Gespräch" sei "in Gefahr", findet auch das Fachportal "Legal Tribune Online". Die Juristin Frauke Rostalski spricht von einer "Verkürzung der Meinungsfreiheit" und ihrem Eindruck, "dass kritische Stimmen mit strafrechtlichen Mitteln zum Schweigen gebracht werden sollen".

Auch "Focus Online" berichtet über den Artikel, bemüht sich in seiner Google-Headline wie immer mit Bravour darum, auf jegliche Differenziertheit zu verzichten und fragt: "Haben wir wirklich noch Meinungsfreiheit?". (Über das Betteridges Gesetz der Überschriften hab ich hier ja neulich schon geschrieben.)

…aber so doll nun auch wieder nicht

Die Grenzen zwischen Alarmieren und Alarmismus sind wie immer fließend. Das zeigt auch ein weiterer Artikel, den "LTO" gestern veröffentlicht hat. Seit einigen Wochen ist immer wieder die Rede vom sogenannten "Lügen-Verbot", das Union und SPD sich angeblich in den Koalitionsvertrag geschrieben haben:

"‘Lügenverbot’ offenbar geplant", schreibt welt.de Ende März, "Stoppt das Lügen-Verbot", titelt die "Bild" am 10. April, von einem "Angriff auf die Meinungsfreiheit und [einer] Gefahr für die Demokratie" schreibt berliner-zeitung.de vor einigen Tagen, faz.net schürt Angst vor einem "Wahrheitsministerium", von "Sätze[n], die einem Angst machen können", schreibt der "Spiegel".

Gegen diese Medien teilt "LTO" nun aus. Die Juristen Tobias Gostomzyk und Victor Meckenstock halten die Debatte für medial hochgekocht:

"Bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags empfahl der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder, jeden Satz genau zu lesen. Schließlich habe man um jeden Satz und jedes Komma gerungen. Viele haben sich das nicht zweimal sagen lassen – darunter auch namhafte Medien. Anders ist die aktuelle Debatte um ein "Lügen-Verbot" kaum nachzuvollziehen."

Die oben verlinkten Artikel beziehen sich auf eine Passage im Koalitionsvertrag von Union und SPD: "Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt", zitiert auch "LTO" den Satz. Aus genau diesem Satz haben diverse Medien ihr "Lügenverbot" gestrickt. Nochmal "LTO":

"Einige Medien empörten sich aufgrund der zitierten Passage. Sie sprechen davon, dass nun ein 'Lügen-Verbot' drohe oder befürchten ein 'Wahrheitsministerium'. Alles zum Nachteil freier Rede. Was ist an den Befürchtungen dran? Zwei Lesarten der Passage des Koalitionsvertrags sind unterscheidbar: Eine isolierte Betrachtung des Satzes und eine im Kontext."

Auch diesen Kontext liefert "LTO" gleich mit, hier die komplette Passage im Koalitionsvertrag:

"Gezielte Einflussnahme auf Wahlen sowie inzwischen alltägliche Desinformation und Fake News sind ernste Bedrohungen für unsere Demokratie, ihre Institutionen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt. Deshalb muss die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können."

Aus einem Lügenverbot wird also plötzlich im Kontext der Kampf gegen Fake News. Der klingt nur nicht ganz so skandalös. Booooring. "Ein allgemeines Lügenverbot lässt sich der genannten Passage des Koalitionsvertrags kaum entnehmen", resümiert "LTO". Lügen bleibt also erlaubt. Dann ist die Meinungsfreiheit ja gerettet.

Der ganz normale Wahnsinn

Es fühlt sich gar nicht mehr so schlimm an wie am Anfang. Meldungen über die trumpsche Politik, objektiv betrachtet ein Fiebertraum, lösen oft nur noch ein ungläubiges bis gleichgültiges Schulterzocken aus. Man gewöhnt sich doch erschreckend schnell an den Wahnsinn. Zu schnell, schreibt Sascha Lobo in seiner "Spiegel"-Kolumne.

"Erneut scheitern auch namhafte Medien an dem Versuch, Donald Trump mit gewöhnlichen politischen Maßstäben zu messen", schreibt er. Seine These: Fast alle deutschen Medien tragen zur Normalisierung Trumps bei. Als Beispiel nennt Lobo unter anderem die Berichterstattung über Trumps wahnwitzigen Plan, Grönland den USA einzuverleiben. Er zitiert einen "Stern"-Artikel:

"Dort ist ein Artikel überschrieben mit: ‘Amerikanischer Besitzanspruch – Trump lässt durchrechnen, wie viel Grönland kosten würde’ . Bereits die Überschrift ist komplett neben der Spur, weil sie entgegen der Wahrheit so tut, als stünde Grönland irgendwie zum Verkauf. Noch dazu hört sich ‘Besitzanspruch’ irgendwie legitim oder zumindest diskutierenswert an. [...] Rein faktisch betrachtet, ist die trumpsche Grönland-Politik die Androhung einer Annexion – aber davon fehlt jede Spur im Text."

Lobo nennt weitere Beispiele. Und schreibt:

"Trump-Normalisierung geschieht zumindest in Deutschland nach meiner Wahrnehmung meist unabsichtlich, aber das macht sie nicht weniger gefährlich. Sie ist das vielleicht beste Beispiel dafür, wie schwierig es auch für deutsche Medien ist, propagandistischer Kommunikation richtig zu begegnen. Die Propaganda des 21. Jahrhunderts basiert auf der Ausnutzung tradierter Kommunikationsgewohnheiten des Publikums und redaktioneller Medien."

Trump macht Propaganda. Das ist eine neue Situation, dass ein US-Präsident das absolute Gegenteil einer privilegierten Quelle ist. Klar müssen wir Journalistinnen und Journalisten den Umgang damit auch erst lernen, denn: Propaganda braucht andere Antworten und Strategien als die bisher dagewesenen. Lobo glaubt, dass das berühmte Augstein’sche "Spiegel"-Motto "Sagen, was ist" nicht mehr ausreicht:

"Ich glaube, dass der Sinnspruch heute erweitert werden kann: Werten, was gewertet werden muss. Und zwar nicht nur in Meinungsbeiträgen, wo das ohnehin geschieht, sondern auch in der nachrichtlichen Darstellung, wenn es zur Beschreibung der Wirklichkeit notwendig ist. [...] Medien, die sich einer notwendigen Einordnung versuchen zu entziehen, verkennen, dass Propaganda im 21. Jahrhundert versucht, die Wertungslosigkeit in extremistischer Weise auszunutzen."

Blöd, alles ohne Wertung wird normal. Und normal ist der Typ nun wirklich nicht. Wertung Ende.


Altpapierkorb (Esser nimmt ÖRR in die Pflicht; Kliemann-Comeback; Pay-TV nicht totzukriegen; Internet Archive wird verklagt; Der Osten in den Medien)

+++ Eigentlich ist "Zeit"-Geschäftsführer während der Rundfunkrefom-Debatte gern damit aufgefallen, sich wohltuend konstruktiv und für einen Verlagschef sehr wohlwollend über die Öffentlich-Rechtlichen geäußert zu haben (Altpapier). Im Interview mit "Turi2" "schlägt" er nun aber "schärfere Töne gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk an", schreibt kress.de. "Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der durch Gebühren gut finanziert ist, hat eine Bringschuld denjenigen gegenüber, die auch in dem Boot der Qualitätsmedien sitzen", sagt Esser. Außerdem kritisiert er, dass ARD und ZDF mit der Rundfunkerhöhung vor Gericht gezogen sind.

+++ Drei Jahre nach seinem Maskenskandal kehrt Fynn Kliemann mit einer ARD-Doku in die Öffentlichkeit zurück. Die "taz" fragt, ob es ihm gelingt, "Verantwortung für seine Fehler zu übernehmen". Für die "taz" bleibt das nach Schauen der Doku "zweifelhaft".

+++ Über den "Pay-TV-Markt im Wandel" sinniert "DWDL". Die deutschen Privatsender betreiben mit "RTL Crime, Sat.1 Emotions & Co." noch eine "beträchtliche Zahl an linearen Pay-TV-Kanälen". Auch wenn Pay-TV im Steamingzeitalter aus der Zeit gefallen wirkt: die Bezahlsender scheinen sich nach wie vor zu rentieren, schreibt dwdl.de.

+++ Das Internet Archive ist eine wichtige Recherchequelle für Journalisten. Wenn Inhalte von einer Website offline genommen wurden, können sie über die Wayback Machine trotzdem aufgerufen werden. Das Internet Archive hat nun allerdings Ärger, schreibt der "Standard". Seit 2006 archiviert das Non-Profit-Projekt auch Musik. "Nostalgiker und Musikhistoriker lieben diesen Trick. Nicht so die Musikindustrie", schreibt der "Standard". Sechs große Labels haben die Website verklagt. "Sollte die Gruppe aus sechs Verlagen erfolgreich sein, droht dem Projekt eine Schadenersatzforderung von bis zu 621 Millionen Dollar", schreibt der "Standard".

+++ Zum Schluss ein Guck-Tipp: Anfang der Woche ist die Doku "Abgeschrieben? - Der Osten in den Medien" in der "ARD Story" erschienen. Die Doku beschreibt, wie das Mediensystem bis heute maximal undifferenziert auf die "neuen Bundesländer" schaut und damit Stereotype festigt. "Der Osten ist wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, erlebt immer wiederkehrende mediale Zuschreibungen", schreibt der federführende MDR. Dass dadurch das Vertrauen in die Medien nur noch weiter sinkt, ist ebenfalls Thema im Film. Ich hab’s echt gern geschaut.

Das Altpapier am Montag schreibt Antonia Groß. Schönes Wochenende!

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