Markus Meckel (SPD) der letzte Aussenminister der DDR, predigt beim Friedensgebet in der Nikolaikirche in Leipzig
Markus Meckel war Initiator der ersten Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Im Bild hält er eine Predigt beim Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche am 9. Oktober 2018. Bildrechte: imago/epd

30 Jahre Enquete-Kommission Aufklärung über DDR-Diktatur – auch ein Mittel gegen Kreml-Propaganda

20. Mai 2022, 10:18 Uhr

Der Westen müsse die DDR als integralen Bestandteil der deutschen Geschichte und nicht als eine Art "Sondergeschichte" begreifen, meint Markus Meckel, der Initiator der ersten Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die am 20. Mai 1992 ihre Arbeit aufnahm. Aber auch ehemalige DDR-Bürger hätten einiges zu lernen, sagt Meckel im Interview mit MDR GESCHICHTE. Der Eindruck, dass man alles über die DDR wisse, nur weil man dort gelebt habe, sei trügerisch. Außerdem müsse man Kommunismus-Erfahrungen aus anderen Ostblock-Staaten stärker in den Blick nehmen – etwa die von Russlanddeutschen. So könne man verhindern, dass sich die "Geschichtsverdrehungen Putins" auch in Deutschland verbreiten.

Woher kam die Idee für eine Enquete-Kommission, die die DDR-Geschichte aufarbeiten sollte?

Markus Meckel: Im Jahr 1991 stand in der Diskussion um die vergangene DDR die Staatssicherheit im Vordergrund. Das hielt ich für falsch. Von Wolfgang Ullmann, Wolfgang Thierse und anderen wurde der Vorschlag gemacht, dass man ein Tribunal schafft, das über Stasi-Fragen urteilt. Ich war dagegen. Wer sollte denn eine besondere Urteilskraft und Moralität dazu haben? So schlug ich stattdessen vor, eine Enquete-Kommission zu gründen. Der Bundestag sollte sich selbst mit der DDR-Vergangenheit auseinandersetzen und sich selbst kompetent machen zum Umgang mit der Hinterlassenschaft der DDR und im Umgang mit Opfern und Tätern.

Im November 1991 habe ich den Vorschlag öffentlich gemacht. Ich war damals Abgeordneter der Opposition und hätte nie gedacht, dass die Idee so schnell Realität wird. Aber wenige Wochen später beschloss die CDU-Bundestagsfraktion, den Gedanken aufzunehmen.

Was war der Grundgendanke bei der Arbeit der Enquete-Kommission?

In den Anfängen der Bundesrepublik gab es große Defizite bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Nun, nach dem Ende der zweiten Diktatur in Deutschland, wollten wir es besser machen. Dabei wollten wir die Öffentlichkeit einbeziehen, um die Demokratie zu stärken.

Natürlich besteht bei der Aufarbeitung der Vergangenheit auch immer die Gefahr, dass man sie zur Keule gegen den politischen Gegner macht – das ist auch hier immer wieder versucht worden. Doch die Kommission bestand neben Abgeordneten auch aus Sachverständigen. Das trug zur Versachlichung bei.

Was waren die wichtigsten Erfolge der Enquete-Kommission?

Wir haben nicht nur über die Stasi geredet, sondern auch über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Herrschaftsstrukturen und die Opfer. Wir haben Prozesse begleitet und in Gang gesetzt, um die Opfer zu rehabilitieren. Wir haben Konzepte für DDR- Gedenkstätten erarbeitet, die vom Bund zu fördern sind. Das ist schließlich auch den NS-Gedenkstätten zugutegekommen.

Ich glaube außerdem, dass es wichtig war, die unterschiedlichen Akteure in der DDR in den Anhörungen zur Sprache kommen zu lassen. Wir haben mit Opfern geredet, aber eben nicht nur mit Opfern. Wir haben Egon Krenz und andere Leute aus dem Politbüro und aus der SED eingeladen. Wir haben Leute eingeladen, die in den verschiedenen Jahrzehnten in der Opposition waren, und auch internationale Gäste.

1998 haben wir entschieden, eine Stiftung zu gründen, die heutige Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die den Aufarbeitungsprozess voranbringen soll. Sie berät den Bundestag, die Bundesregierung und den Bundespräsidenten, bringt Veröffentlichungen heraus, begleitet und gestaltet Gedenktage. Besonders wichtig aber ist: Sie unterstützt die gesellschaftlichen Gruppen, welche sich dieser Herausforderung widmen, die Geschichte aufzuarbeiten.

Markus Meckel in der Neuen Wache
Markus Meckel in der Neuen Wache in Berlin Bildrechte: imago images/Charles Yunck

Sie haben internationale Gäste erwähnt – was können sie zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte beitragen?

Ich bin sehr dafür, dass wir die Aufarbeitung international ausrichten, denn kommunistisch war eben nicht nur die DDR, sondern die ganze östliche Hälfte Europas. Man kann die DDR nur verstehen, wenn man sie ins Verhältnis zu den Entwicklungen in Moskau setzt, wo ja viele Entscheidungen getroffen wurden, und zu den kommunistischen Nachbarstaaten.

Wir sollten uns deshalb auch grenzüberschreitend damit beschäftigen und viel stärker von kommunistischer Diktatur, nicht von SED-Diktatur reden. So können wir diejenigen ansprechen, die einen anderen kommunistischen Erfahrungshintergrund haben. Es gibt ja viele Russlanddeutsche oder Spätaussiedler aus Siebenbürgen, die die Kommunismus-Erfahrung außerhalb der DDR gemacht haben.

Warum ist es wichtig, Menschen mit Kommunismus-Erfahrungen außerhalb der DDR anzusprechen?

Besonders die Russlanddeutschen einzubeziehen, ist ausgesprochen wichtig. Denn ein Teil dieser Gruppe ist stark von russischen Medien beeinflusst. Und wenn wir bedenken, dass ein gar nicht so kleiner Anteil der deutschen Bevölkerung durch Putin beeinflusst wird, ist es etwas, was wir ernst nehmen müssen, weil wir Gefahr laufen, dass die Geschichtsverdrehungen Putins auch in Deutschland geglaubt werden. Da muss man gegenhalten. Insofern ist das eine wichtige Dimension der Aufarbeitung, die wir in den 1990er-Jahren noch zu wenig im Blick hatten.

Wenn Sie sagen, Aufarbeitung ist nach wie vor eine wichtige Aufgabe – wie sollte sie denn heute ablaufen?

Aufarbeitung braucht einen gesellschaftlichen Diskurs. Wir sind in unseren Denk- und Verhaltensweisen von der Vergangenheit geprägt. Wir müssen uns ehrlich die Fragen stellen: Wo hättest du anders reagieren müssen in der Zeit der DDR oder im Kommunismus? Hast du vielleicht auch selber Schuld auf dich geladen? Wo hast du geschwiegen, als du etwas hättest sagen sollen?

Das sind persönliche Fragen, aber natürlich auch Fragen an die Gesellschaft. Deshalb ist es wichtig, dass wir etwa Filme, Theaterstücke und andere Kunstwerke unterstützen, die das aufgreifen, weil die Menschen dadurch einen ganz anderen Zugang bekommen als durch ein wissenschaftliches Buch. So gesehen bleibt Aufarbeitung eine Selbstbefragung des Einzelnen in der ostdeutschen Gesellschaft und natürlich auch ein Diskurs mit Westdeutschland.

Welche Rolle spielt Westdeutschland bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit?

Ich glaube, Westdeutschland muss überhaupt erst lernen, dass die DDR-Geschichte Teil der deutschen Geschichte ist. Wir müssen immer wieder deutlich machen, dass beide deutsche Staaten nur mit dem Blick auf den jeweils anderen deutschen Staat verständlich sind. Viele im Westen denken immer noch, die deutsche Geschichte zwischen 1945 und 1990 wäre eine westdeutsche, was nun wahrhaftig nicht stimmt. Die DDR-Geschichte ist ein integraler Bestandteil der deutschen Geschichte und nicht nur eine Sache für Spezialisten und ein paar Betroffene "im Osten", eine Art "Sondergeschichte".

Wobei ich gleichzeitig betonen möchte: Über die DDR zu lernen, ist nicht nur eine Aufgabe für Westdeutschland – dort ganz gewiss. Aber es ist auch eine Aufgabe für ehemalige DDR-Bürger, die ja oft denken, dass sie die DDR kennen, sie hätten ja schließlich dort gelebt. Aber in der DDR gab es keine freie Öffentlichkeit, so dass man eigentlich nur das kannte, was man selbst erlebt hat, aber vieles, was anderswo parallel passierte oder vor Jahren passiert war, auch als DDR-Bürger einfach nicht wusste. Etwa vom Aufstand des 17. Juni 1953 wussten viele in den Reihen der Opposition in den 1970er- und 1980er-Jahren wenig.

Wenn ich Sie um einen Schlusssatz bitten darf: Warum sollten wir uns auch heute noch mit der DDR-Vergangenheit befassen?

Die Zeit des Kalten Krieges und der Teilung hat uns geprägt, in Ost und West. Diese Prägungen, die Denk- und Verhaltensweisen, bestimmen uns oft bis heute – und es ist wichtig, sie genauer in den Blick zu nehmen, um der Zukunft willen. Wer die Vergangenheit der Diktatur kennt, wird die Demokratie umso mehr achten und schätzen. Gleichzeitig gilt: Wir dürfen die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht so in verschiedenen, voneinander getrennten Dimensionen betrachten, wie Nationalsozialismus, Kommunismus, Krieg und Vertreibung. Es braucht viel mehr den Blick auf die Zusammenhänge und langen Linien und somit auch den Dialog mit den Erfahrungen der Nachbarn.

Das Interview führte Cezary Bazydło.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL 19.30 Uhr | 17. März 2022 | 19:30 Uhr