
Sucht in der DDR: Drogen, Alkohol, Beruhigungsmittel Tabletten mit Schnaps: die Ersatzdroge der DDR
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01. Dezember 2021, 15:00 Uhr
Illegale Drogen fanden nur selten ihren Weg in die DDR. Wer sich berauschen wollte, griff zur Flasche – oder in die Hausapotheke. Besonders beliebt war das Beruhigungsmittel "Faustan", denn gemischt mit Alkohol oder Cola löste es psychedelische Zustände aus. Doch nicht nur zum Feiern wurden Medikamente missbraucht, auch bei Patientinnen und Patienten war das Suchtpotenzial hoch und konnte in Abhängigkeiten führen. Woran lag das?
Eine "Faustan" von Oma, eine Flasche Doppelkorn und los konnte es gehen – um in der DDR ausgelassen zu feiern, brauchte es keine Drogen. Die Chance, an welche zu kommen, war ohnehin verschwindend gering. Nur wer die richtigen Beziehungen hatte, konnte sich illegale Substanzen aus dem Ausland organisieren. Besonders Mutige trauten sich sogar, kleine Mengen Haschisch aus West-Berlin einzuführen und vereinzelt wurden Opiate aus Kliniken, Apotheken oder von Ärztinnen und Ärzten entwendet. Die meisten Feierwütigen mussten jedoch kreativ werden, um sich über das "gewöhnliche" Betrunkensein hinaus zu berauschen.
Faustan, Aponeuron und Co.
Besonders bei Jugendlichen, Studierenden und Subkulturen wie der Punk- oder New Wave-Szene waren Kombinationen aus Arzneimitteln mit Hochprozentigem beliebt. Auch Schnüffelstoffe wie der Fettfleckenentferner "NUTH" wurden zur Ersatzdroge. Der DDR-Suchtberater Helmut Bunde berichtet:
Hier wurden gewisse Sachen selbst zusammengemixt, auch Arzneimittel. Es gab dann so Kombinationen mit Faustan und anderen Medikamenten und auch Alkohol – Faustan und Alkohol, Faustan Cola zum Beispiel. Gelegentlich haben die Leute auch geschnüffelt.
"Faustan" war in der DDR ein berühmt-berüchtigtes Arzneimittel, das wie die stoffverwandten Tranquilizer "Radepur", "Rudotel" und "Radedorm" eigentlich gegen Unruhe, Angst und Spannungszustände verschrieben wurde. In der Kombination mit Alkohol wurde die Wirkung des Medikaments allerdings verstärkt und konnte rauschartige, psychedelische Zustände hervorrufen. Dass es zu diesem Zweck auch oft und gerne verwendet wurde, war ein offenes Geheimnis in der DDR.
Aus der Stoffgruppe der Opiate und Opioide waren Husten- oder Schlafmittel mit dem Inhaltsstoff Codein besonders beliebt, wie das Hustenmittel "Eucopon", das stark euphorisierend wirkte, sowie das Schmerzmittel "Dolcontral". Daneben wurden Stimulanzien wie die Aufputschmittel "Centedrin" und "Aponeuron" konsumiert. "Aponeuron" war ein Amphetaminil, das ähnlich der Soldatendroge "Pervitin" und dem heutigen "Speed", beziehungsweise "Crystal Meth" wirkte. Studierende nutzten die "Upper", um nächtelang für Klausuren lernen zu können. Mit "Faustan" brachte man sich dann anschließend wieder runter. "Aponeuron" schaffte es sogar auf die Leinwand: Im Spielfilm "Das Leben der Anderen" wird der illegale Medikamentenbezug und die Abhängigkeit einer jungen Frau von den Tabletten thematisiert. Ähnlich aufputschende Inhaltsstoffe wiesen Medikamente auf, die offiziell als Appetitzügler verkauft wurden, wie "Sedafamem" oder "Exponcit". In Westdeutschland entsprachen solchen Präparaten die damals rezeptfrei erhältlichen Pep-Pillen "AN1" und "Rosimon Neu". In der DDR hingegen waren die Arzneien nur auf Rezept erhältlich, was die Beschaffung natürlich erschwerte. Die Hausapotheke der Großeltern konnte jedoch oft abhelfen.
Abhängigkeit auf Rezept
Wurden Schlaf- oder Beruhigungsmittel länger als empfohlen genutzt oder mit anderen Arzneimitteln oder Alkohol kombiniert, konnten Abhängigkeiten entstehen. Auch Diät- oder Aufputschpillen waren beliebt und machten süchtig. Besonders Frauen waren von dieser Art des Missbrauchs betroffen. Sie machten 85 Prozent aller Medikamentenabhängigen in der DDR aus. Neben älteren Menschen bekamen sie auffällig oft Psychopharmaka verschrieben. Als Ursache dafür wird die Doppelbelastung berufstätiger Frauen vermutet, die damals als ihr natürliches Schicksal angesehen wurde. In Bezug auf Geschlechtererwartungen und zugeschriebenen Rollen unterschied sich die DDR also nicht erheblich von der BRD.
Es gab viele im Schichtsystem, die das nicht ausgehalten haben – Schichtsystem, Haushalt und so weiter, die sind mit dem Rhythmus nicht zurechtgekommen. Und Frauen neigen da eher dazu, eine Pille zu nehmen, als einen Schluck Cognac oder Wodka.
Eine Medikamentenabhängigkeit war (und ist auch heute) schwer zu erkennen und recht einfach zu verbergen. Betroffene kamen deshalb nur selten in Beratungsstellen oder Suchtstationen. Die meisten gingen ihrer Arbeit nach und verhielt sich relativ unauffällig.
Vom Tabuthema zur Aufklärung
In der DDR herrschte die Überzeugung, dass es im sozialistischen Staat keinen Alkohol- und Medikamentenmissbrauch gebe, weil das eine "Plage des Kapitalismus" sei. Konsum und Sucht waren deshalb lange Tabuthemen. Gemäß der "Einheitlichen Konvention über Suchtmittel der Vereinten Nationen" von 1961 verpflichtete sich die DDR jedoch zur Bekämpfung des Rauschgifthandels. Außerdem konnte der rapide Anstieg des Bedarfs an Psychopharmaka in den 60ern nicht länger ignoriert werden. Die Verschreibung von Arzneien wurde nun zunehmend reguliert. "Wunschverordnungen" sollten bekämpft und der hohe Verbrauch der sowieso knappen Medikamente gesenkt werden. Außerdem informierten Zeitschriften und Fernsehen über Rauschmittel und den Unterschied zwischen sinnvoller, therapeutischer Verwendung von Medikamenten und unverantwortlichem Konsum. Auch die Stasi musste sich zwangsweise mit den Themen Drogen und Medikamentenmissbrauch auseinandersetzen. In speziellen Schulungsfilmen wurde deswegen ausführlich über Rauschgifte wie Haschisch, LSD und Opioide informiert.
Die Pharmazieingenieurin Annette Schiffner arbeitete zu DDR-Zeiten in einer Cottbuser Apotheke. Auch dort klärten die Angestellten über die Gefahren von übermäßigem Medikamentenkonsum auf. Angesprochen wurden Kundinnen und Kunden, die regelmäßig kamen und gleich mehrere Packungen auf einmal kauften. Das war nicht immer einfach, erinnert sich Schiffner. Die stets langen Schlangen und fehlende Privatsphäre erschwerten es, solche Gespräche taktvoll zu führen. Zudem wurden Beipackzettel teils schmerzlich vermisst. Nicht alle Medikamente hatten welche beigelegt. Gebrauchshinweise waren dann einfach direkt auf die Packung gedruckt. Für ausführliche Warnungen vor Neben- oder Wechselwirkungen gab es dann meist keinen Platz mehr.
Wenn nichts mehr hilft
Süchtige waren in der DDR lange auf sich selbst gestellt. Hilfe fanden sie zunächst nur bei ihren Mitmenschen, ab 1960 bei der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft gegen die Suchtgefahren. Die AGAS wurde von der Inneren Mission und dem Hilfswerk der Evangelischen Kirche getragen. Erst in den 70ern entstanden therapeutische Clubs unter staatlicher Obhut. 1986 gab es etwa 250 Gruppen.
Die Kirche hatte in jedem Kreis eine Zweigstelle der Inneren Mission, wo ein oder zwei Fürsorger oder Fürsorgerinnen tätig waren und sich um alle möglichen Belange kümmerten. Auch Suchtkranke sind zu uns in die Beratungsstelle gekommen.
Nach der Wende blieb der erwartete große Drogenrausch zunächst aus. Der Konsum illegaler Substanzen passte sich über die Jahre kontinuierlich dem Niveau der alten Bundesländer an. Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeiten verschwanden jedoch nicht. Schätzungen gehen davon aus, dass heute zwischen 1,4-1,9 Millionen Deutsche abhängig von Medikamenten sind.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um 4 u. a. mit Mediziner Dr. Thomas Dietz: Medikamentensucht - in Abhängigkeit geraten | 07. Januar 2021 | 17:00 Uhr