Solidaritätsaktion 1981: DDR-Kinder schicken Weihnachtspäckchen nach Polen

13. Dezember 2022, 05:00 Uhr

Als im Dezember 1981 in Polen das Kriegsrecht verhängt wird, steht die DDR nicht nur politisch an der Seite des sozialistischen "Bruderlandes". Schon am 17. Dezember starten erste Transporte mit Hilfsgütern für den wirtschaftlich schwer gebeutelten Nachbarn. An allen Schulen der Republik werden Weihnachtspäckchen für die "Kinder Volkspolens" gepackt und die Arbeitskollektive sammeln Geldspenden. Die Aktion ist "von oben" angestoßen - die Hilfsbereitschaft der DDR-Bevölkerung ist aber echt!

Cezary Bazydlo
Bildrechte: Cezary Bazydlo | MDR

Oliver Schulz schwärmt noch heute von der Hilfsaktion der DDR "für die Kinder Volkspolens". Das Jahr 1981 neigt sich dem Ende zu und in Polen wurde erst vor wenigen Tagen das Kriegsrecht verhängt. Schulz geht damals in die vierte Klasse der POS "Ernst Thälmann" in Marienberg.

Unsere Klassenlehrerin, Frau Lubitz, berichtete uns vom Aufruf, den zu dieser Zeit hungernden Menschen in Polen zu helfen. Wir sollten ein Paket zurechtmachen. Ich weiß noch ganz genau, wie ich beim Abendessen meinen Eltern davon berichtete.

Oliver Schulz

Das sozialistische Nachbarland erlebt zu diesem Zeitpunkt nicht nur die größte politische Krise seiner Geschichte, sondern auch einen wirtschaftlichen Tiefpunkt: Die Ladenregale sind meist leer, und wenn es etwas zu kaufen gibt, denn nur gegen Lebensmittelkarten. Die DDR ist im Vergleich dazu ein Schlaraffenland!

Erinnerungen an Nachkriegszeiten

Familie Schulz ist von der Hilfsaktion begeistert. Sie haben selbst schwere Zeiten erlebt. Der Vater von Oliver Schulz war am Ende des Zweiten Weltkriegs fünf Jahre alt, seine Familie musste ihre Heimat in den ehemaligen deutschen Ostgebieten verlassen und sich eine neue Existenz in der DDR aufbauen. Die Mutter von Oliver Wirth stammt zwar aus dem Erzgebirge, aber auch sie musste als Kind in der Nachkriegszeit hungern und frieren, weil es nur wenig zu essen gab und nichts zum Heizen da war.

Da auch meine Eltern noch miterleben und vor allem erleiden mussten, was Hunger und Not bedeuten, war unsere Hilfsbereitschaft schier grenzenlos. Die schrecklichen Kindheitserlebnisse haben meine Eltern so sehr geprägt, das Herzlichkeit, menschliche Nähe und Hilfsbereitschaft für sie zeitlebens sehr wichtig waren.

Oliver Schulz

Die heimische Vorratskammer wird für die hungernden Polen geplündert. Darüber hinaus will man den unbekannten Empfängern aber etwas ganz Besonderes für das bevorstehende Weihnachtsfest mitschicken. Doch woher nehmen? Das alljährliche Westpaket von der Verwandtschaft aus Osnabrück ist noch nicht da.

Eine DDR-Delikatesse für hungernde Polen

"Wir brauchen noch etwas Gutes, sagte mein Herr Papa, erklärte aber nicht, was er damit meinte", erzählt Schulz. Das Geheimnis wird einen Tag später gelüftet, als er voller Stolz einen frisch geräucherten Schinken nach Hause bringt, "eine absolute Seltenheit in der DDR". Schulz' Vater ist mit seinem Trabant durch die stark verschneiten Straßen – damals noch ohne Winterreifen! – zum Schlachthof in Olbernhau gefahren, wo er die Delikatesse ergattern konnte.

Mit Stolz, anderen zu helfen, konnte ich am vereinbarten Tag im Speisesaal der Ernst-Thälmann-Schule in Marienberg unser Hilfspaket abliefern.

Oliver Schulz

Was sich in jenen Tagen kurz vor Weihnachten in Marienberg abspielt, ist Teil einer DDR-weiten Solidaritätsaktion. Schon am 17. Dezember 1981, nur wenige Tage nach Ausrufung des Kriegsrechts, startet am Flughafen Berlin-Schönefeld eine Regierungsmaschine mit zehn Tonnen Arzneimitteln für Polen an Bord und in Dresden bricht der erste Lkw-Konvoi mit Hilfsgütern auf.

Einen Tag später startet die Kampagne "Hilfe für die Kinder Volkspolens", an der sich auch die Schulzens aus Marienberg beteiligen. An allen Schulen der DDR werden Päckchen mit Lebensmitteln, Süßigkeiten und Spielzeug gesammelt. Die Erwachsenen können Spenden auf das Sonderkonto 555 beim Postscheckamt Berlin einzahlen.

DDR-Bürger sammeln Spenden

Nur einen Tag nach dem Aufruf, am 19. Dezember 1981, berichten Stimme der DDR, Berliner Rundfunk und Radio DDR II in einer zweieinhalbstündigen Sondersendung von der Solidarität der Bevölkerung: Hunderte Menschen rufen an oder schicken Telegramme ins Studio. Junge Pioniere, FDJler und Arbeitskollektive geben an, wie viel Spenden sie gesammelt haben – angeblich kommen schon am ersten Tag der Aktion 1,25 Mio. Mark zusammen.

Auch das "Neue Deutschland" zählt in den nächsten Tagen akribisch Spenden auf, von relativ kleinen Überweisungen, wie die 480 Mark von der Jugendbrigade "Ernst Thälmann" im VEB Robotron-Elektronik Zella-Mehlis, bis hin zu den Großspenden des Zentralrats der FDJ und des FDGB, die eine bzw. zehn Millionen Mark beisteuern. Der stellvertretende Chefredakteur der "Aktuellen Kamera" kommt in der Sendung vom 21. Dezember 1981 ob so viel Hilfsbereitschaft regelrecht ins Schwärmen – und kann sich gleichzeitig einen Seitenhieb gegen den "Klassenfeind" aus dem Westen nicht verkneifen.

Wir würden gern sehen, dass auch der zweite deutsche Staat genauso offen ist gegenüber dem polnischen Volk, zumal die großen Leiden unvergessen sind, die faschistische Truppen in deutschem Namen im Zweiten Weltkrieg über unser Nachbarvolk brachten. Aber es sind das Volk der Deutschen Demokratischen Republik und seine Kinder, die in diesen Tagen als Sendboten der Freundschaft Pakete packen und an ihre Altersgefährten schicken.

Ulrich Makosch Aktuelle Kamera, 21.12.1981

Vom Agressor zum Freund

Die deutschen Paketsendungen hatten eine nachhaltige Wirkung. Sie halfen dabei, die Wunden des Zweiten Weltkriegs zu heilen, der damals im kollektiven Gedächtnis noch sehr präsent war. Das Bild der Deutschen in Polen änderte sich positiv, weil die Pakete meist von völlig fremden Menschen geschickt wurden. Der einstige Aggressor half Polen in der Not und wurde so zum Freund – nicht nur in übertragenem Sinne, denn in vielen Fällen bedankten sich die Beschenkten persönlich bei den Absendern, wodurch auch persönliche Freundschaften geknüpft wurden, die bis heute halten.

Die Lkw-Kolonne mit Geschenken der Berliner für die polnische "Schwesterstadt" Warschau besteht aus 50 Fahrzeugen und ist vier Kilometer lang! Bei ihrer Ankunft erregt sie Aufsehen: Die Passanten drehten sich verwundert um, berichtet "Neues Deutschland", und das Fernsehen der DDR zeigt Warschauer Heimkinder, die freudestrahlend die Päckchen aufmachen. Auch außerhalb Berlins lässt man sich nicht lumpen – schließlich hat Parteichef Honecker persönlich angewiesen, dass alle DDR-Bezirke Transporte in ihre polnische Partnerregion organisieren sollen.

Hilfstransporte aus allen DDR-Bezirken

So gehen allein aus dem Bezirk Dresden bis Jahresende rund 160 Lkw ab. Von Magdeburg rollen in einem Güterzug fünf Millionen Eier nach Polen, von Cottbus – mehrere Milchtransporte. Die Lkw-Konvois sind nicht selten einen ganzen Tag durch Eis und Schnee unterwegs! "Humanitäre Hilfe von Freund zu Freund" und "internationalistische Pflicht", urteilt das Zentralorgan der SED. Die Fahrzeuge sind mit DDR-Fahnen und zweisprachigen Aufschriften wie "Przyjaźń – Freundschaft" geschmückt. Sogar die Nationale Volksarmee schickt Spenden "für die polnischen Klassen- und Waffenbrüder" auf den Weg.

Wilde Gerüchte über die Lage in Polen

Dabei werden die Lkw-Fahrer manchmal so verabschiedet, als führen sie an die Front, denn Gerüchten zufolge ähnelt die Situation in Polen einem echten Krieg und auf den Straßen sollen bewaffnete Mitglieder der Solidarność ihr Unwesen treiben. Diese Gruselmärchen sind das Resultat einer Propagandakampagne aus der Zeit vor dem Kriegsrecht. Die SED-Führung hat Angst, dass der "polnische Bazillus", also die Forderung nach Reformen, in die DDR herüberschwappen könnte. Deshalb hebt sie den visafreien Grenzverkehr auf und lässt in den Medien Vorbehalte gegen Polen schüren.

Helmut Schmidt in der DDR - Galerie 2 min
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Der Besuch Helmut Schmidts in der DDR 1981 fällt zusammen mit der Verhängung des Kriegsrechts in Polen. Wie überraschend kam diese Nachricht für Schmidt und Honecker?

MDR FERNSEHEN Mi 29.09.2010 22:05Uhr 01:53 min

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Doch mit dem Ausrufen des Kriegsrechts schwenkt man um. Polen ist aus SED-Sicht zurück auf dem richtigen Kurs und wird in den Medien wieder als "Bruderland" dargestellt, dem man helfen muss. Und auch wenn die Aktion von oben gesteuert und propagandistisch ausgenutzt wird – die Hilfsbereitschaft der DDR-Bürger ist groß und echt! Das bestätigen Berichte der Stasi, die das Geschehen diskret überwacht.

Enorme Hilfsbereitschaft der DDR-Bevölkerung

Zweieinhalb Millionen Weihnachtspakete kommen in der DDR insgesamt zusammen. Schüler, Lehrer und Eltern engagieren sich gern beim Sammeln. In den Betrieben werden Überstunden gefahren, um Waren für Polen zu produzieren. Auch bei Geldspenden sind die Bürger freigiebig, organisieren Lotterien und Wohltätigkeitsbasare. So können bis einen Tag vor Heiligabend laut DDR-Regierung Waren im Wert von 200 Millionen Mark auf Transport gehen.

Die große Solidaritätsaktion vom Dezember 1981 beeinflusst das Leben von Oliver Schulz nachhaltig – sie weckt in seiner Familie das Interesse und Verständnis für das östliche Nachbarland. Sein Vater genießt es, dass seine Brigade sich nicht wie sonst üblich in der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft engagiert, sondern in der Deutsch-Polnischen.

Liebe in Polen

Noch in der DDR lernen sie im Urlaub eine polnische Familie kennen und im Sommer 1989 brechen sie schließlich nach Masuren auf, wo ein FDGB-Urlaubsplatz auf sie wartet. Oliver Schulz bewundert, wie kreativ und einfallsreich die Polen der Mangelwirtschaft in ihrem Land trotzen, das künftig auch in seinem Herzen einen festen Platz hat – erst recht, nachdem er vor fünf Jahren, wieder im Urlaub in Masuren, seine polnische Ehefrau kennenlernt.

Der Artikel erschien erstmals im Dezember 2021

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 31. August 2020 | 19:30 Uhr