
Eure Geschichte Wendekinder und Nachwendekinder
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03. März 2022, 18:46 Uhr
Wendekind oder Nachwendekind: Systemwechsel in der Schule, Veränderung des sozialen Umfeldes, Umgang mit der eigenen Geschichte. Wie geht die Generation, die 1990 im Kinder- oder Teenageralter war, mit den neuen Herausforderungen um?
Das Thema bietet die Möglichkeit, exemplarisch Einsichten in zwei typische Wende- und Nachwendekinderschicksale zu erlangen. Hier besteht offenbar besonders in den westlichen Bundesländern Nachholbedarf. Die historischen und affektiven Einblicke fördern eine perspektivische Auseinandersetzung mit aktuellen politischen und sozialen Entwicklungen. Um die Problematik der Wende- und Nachwendekinder differenziert betrachten zu können, bedarf es einer vorgelagerten Einordnung.
Unterschiedliche Generationen – Unterschiedliche Herausforderungen
Nach Ansicht des Soziologen Steffen Mau, der sich intensiv mit der ostdeutschen Gesellschaft nach 1990 auseinandergesetzt hat, sind die unterschiedlichen Generationen der DDR-Bevölkerung unterschiedlich mit den Erfahrungen des Endes der DDR umgegangen. Ihm zufolge traf die Generation der "mittleren Werktätigenkohorten", also die zwischen 1940 und 1960 geborenen, die Wende besonders hart, da sie am stärksten von Massenarbeitslosigkeit und sozialen Umwälzungen betroffen waren.
Diese Generation war stark in der DDR verwurzelt, gleichzeitig wurden ihr nach 1990 die größten Anpassungen zugemutet, was sich bei vielen in einer Verbitterung ob der vorgeblich "verschenkten Lebenszeit" in der DDR und in einer Verunsicherung bezüglich der weiteren Lebensgestaltung ausdrückte.
Die ältere Generation, also die ca. 1925 bis 1939 Geborenen, hatten in der DDR teils erfolgreiche Lebensläufe vorzuweisen und wechselten als Ruheständler direkt in das bundesdeutsche Rentensystem, was für viele eine Verbesserung gegenüber dem Rentensystem der DDR darstellte. Mental war diese Generation zeitlebens stark mit der DDR verbunden.
Wendekinder mit Existenzängsten
Die so genannten "Wendekinder", die Geburtsjahrgänge von etwa 1975 bis 1985, hatten vor allem die Existenzängste der Eltern erlebt und eine ideologische 180-Grad-Wende in der Schule sowie eine „Entsorgung“ des alten Denkens bei weitgehender personeller Kontinuität der Lehrerschaft erfahren.
Soziologen sprechen hier von einer "Generation der Unberatenen", deren Eltern als Helfende und Ratgebende beim Heranwachsen ausfallen. Die Journalistin und Autorin Jana Hensel (geboren 1974 in Borna, Sachsen) berichtet von einer sehr starken Abgrenzung von ihren Eltern.
Herkunft und Sinnstiftung?
Wendekinder zeichnen sich generell durch eine Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft aus oder durch die Suche nach Sinnstiftung. Laut Steffen Mau gibt es in dieser Generation große Gruppen von "Abgehängten" und wirtschaftlichen "Verlierern", die sich als anfällig für Ideologien erweisen.
Enttäuscht von der Demokratie
Die letzte zu erwähnende Gruppe ist die der nach 1989 Geborenen. Untersuchungen zeigen, dass diese Gruppe sich enttäuschter von der Demokratie zeigt als westdeutsche Gleichaltrige und die Nachwendezeit insgesamt kritischer bewertet. Die nach 1989 Geborenen sind sich bewusst, dass es einen Unterschied macht, ob man aus dem Westen oder dem Osten kommt und fühlen sich häufig besonders mit Ostdeutschland verbunden, was angesichts der Tatsache, dass sie die DDR nie erlebt haben, bemerkenswert ist.
Johannes Nichelmann, 1989 geboren, nennt diese Generation "Nachwendekinder". Die beiden letztgenannten Gruppen, die "Wendekinder" und die "Nachwendekinder", sind Gegenstand der beispielhaften Betrachtung im obigen Filmbeitrag.
Das Nachwendekind Johannes Nichelmann
Das "Nachwendekind" Johannes Nichelmann, auf den sich auch der Filmbeitrag konzentriert, geht in seinem Buch der Frage nach, inwieweit das Schweigen der Elterngeneration bei den Jugendlichen Unsicherheiten und Fragestellungen nach der eigenen Identität (als Ostdeutsche/r) auslöst.
Unbeantwortete Fragen nach der eigenen Geschichte und der Rolle der Eltern in der DDR sind Gründe für diese Identitätssuche:
- Waren die Eltern Täter, also Unterstützer des Systems in der DDR?
- Hatten sie an den Sozialismus geglaubt und schämen sich heute für ihre Naivität?
- Waren sie in der Zeit der DDR Verfolgte oder Opfer von Überwachung?
- Wie sind die Alltagserzählungen von Urlaub an der Ostsee und die nun im Unterricht gelernte Geschichte von der DDR als einem Land von Verfolgung und Stasi in Einklang zu bringen?
Ostdeutsche Identität?
Die erste Erfahrung mit seiner "ostdeutschen Identität" macht Nichelmann, als seine Mutter wegen einer Arbeitsstelle nach Bayern zieht und Nichelmann schon am ersten Tag in der westdeutschen Schule über sein Ostdeutschsein definiert wird.
Seine Reaktion beschreibt er schon in dieser Situation als geprägt von Anpassung auf der einen Seite und Provokation durch Betonung des "Andersseins" auf der anderen Seite. Die schwierigen Gespräche mit seinen Eltern über deren persönliche Geschichte in der DDR sind der Anlass für die Auseinandersetzung des Autors mit dem Umgang seiner Generation mit der DDR.
Nichelmann drückt in seinem Buch, das der Soziologe Daniel Kubiak von der Humboldt-Universität wissenschaftlich begleitete, den Wunsch nach einem größeren Selbstbewusstsein der damaligen DDR-Bürger bezüglich ihrer Lebensgeschichte aus.
Das Wendekind Sabine Rennefanz
Nicht im Filmmaterial behandelt werden die so genannten Wendekinder. Zu diesen gehört die Journalistin Sabine Rennefanz (geboren 1974 in Beeskow, Brandenburg). Ihr Buch "Eisenkinder", das 2012 erschien, verfolgt einen ausschließlich biographischen Ansatz.
Sie beschreibt ihre Zeit 1989, als sie aufgrund guter Leistungen an der Erweiterten Oberschule (seit 1959 ist dies die Bezeichnung für Schulen, die zum höheren Bildungsabschluss führen, vergleichbar mit dem heutigen Gymnasium) "Clara Zetkin" in Eisenhüttenstadt angenommen wird, um das Abitur abzulegen. Dies ist ein großer Schritt für die Jugendliche, bedeutet es doch die Anerkennung für vorbildliches Verhalten und gute Leistungen in dem sozialistischen System. Es bietet dem Mädchen vom Land auch die Möglichkeit, Französisch zu lernen.
Die Wende 1989 bedeutet für Rennefanz einen radikalen Umbruch auf verschiedenen Ebenen: Der ehemals wertvolle - allerdins auch politisch reglementierte - Schulabschluss wird entwertet, die Schule selbst ändert ihren Namen, belastete Lehrkräfte passen sich entweder an oder müssen die Schule verlassen.
Die junge Sabine Rennefanz erlebt den Niedergang der einst stolzen sozialistischen Modellstadt Eisenhüttenstadt durch Wegzug der jungen Bevölkerung, die Auflösung von sozialen Umgebungen, die weit verbreitete Arbeitslosigkeit, den Zuzug von Migranten und die daraus entstehende Verunsicherung.
Ihr persönlicher Weg führt sie in den Westen, wo sie Sicherheit in einer evangelikalen Freikirche sucht und sich als anfällig für Versprechungen von Zugehörigkeit und Sicherheit erlebt. Viele Jahre nach der Wende fährt sie zurück nach Eisenhüttenstadt, wo sie ehemalige Lehrkräfte und Mitschüler trifft. Die in diesem Rahmen geführten Gespräche und Erinnerungen sind Grundlagen ihres Buches.