Viele im Osten haben ein Problem mit der "Freiheit", erklärt der Buchautor und (Ost-) Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch mit Stefan Nölke.
Ob sich die Freiheitsrevolution von 1989/90 historisch durchsetzen wird, sei noch lange nicht ausgemacht, erklärt der Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch mit MDR Kulturredakteur Stefan Nölke. Überall in Europa erhielten die Feinde von Demokratie und Rechtstaat gerade sehr starken Zulauf und Ostdeutschland nehme diesbezüglich eine Art Vorreiterrolle ein. In seinem neuen Buch "Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands nach 1989/90" (erschienen bei C.H. Beck) legt Kowalczuk die Gründe dafür dar. Einer davon: Autoritäre Denkmuster und Staatsvorstellungen hätten sich hier über die DDR-Zeit hinweg bis heute in weiten Teilen der ostdeutschen Bevölkerung gehalten. Daher die weitverbreitete Ablehnung der liberalen, westlichen Demokratie und daher die Affinität zu Putins Diktatur. In seiner Analyse kommt Kowalczuk immer wieder auf die Revolution von 89/90 zu sprechen. Es sei ein Irrglaube, dass die Menschen damals mehrheitlich für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen seien, die meisten hätten sich nach Wohlstand und Reisefreiheit gesehnt und sich deshalb bei den Volkskammerwahlen im März 1990 für den schnellen Beitritt und die Währungsunion ausgesprochen. Dies sei die freie Entscheidung der DDR-Bevölkerung gewesen. Sicher hätten dabei auch völlig unrealistische, idealisierte Vorstellungen vom Westen eine Rolle gespielt. Die Ostdeutschen deshalb einseitig als Opfer einer Art westdeutscher Kolonisation darzustellen, wie dies der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann tue, sei völlig abwegig. Auf Oschmanns Bestseller "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" (2023) liefert Kowalczuk eine ebenso differenzierte wie engagierte und streitbare Antwort. Zugleich warnt der gebürtige Ostberliner mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen davor, die Freiheit, wie sie 89/90 erkämpft wurde, zu verraten. Kowalczuks Betrachtung enthält zweifellos einige unangenehme Botschaften. Ob sie auch eine heilsame Wirkung entfalten, ist eine andere Frage. Sie zur Kenntnis zu nehmen, wäre ein erster Schritt.
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