Auf dem Viktorianischen Picknick 2019
Auf dem WGT Leipzig wird jedes Jahr stilecht ein Viktorianisches Picknick veranstaltet. Bildrechte: MDR/Jeannine Völkel

Wave-Gotik-Treffen Leipzig Viktorianisches Picknick: Woher die WGT-Tradition stammt

13. März 2025, 11:43 Uhr

Beim Wave-Gotik-Treffen (WGT) in Leipzig ist das Viktorianische Picknick in jedem Jahr einer der Höhepunkte des Festivals. Doch woher kommt eigentlich die Lust, im Freien zu essen? Wer hat damit begonnen? Und warum heißt es Picknick? Ein kleiner Streifzug durch die Kulturgeschichte des Picknicks, das als britische Erfindung gilt und zur Zeit von Queen Victoria groß in Mode kam. Zum Wave-Gotik-Treffen in Leipzig lebt sie jedes Jahr auf.

In der Antike traf man sich bei den Griechen zum Freundschaftsmahl Eranos, mitzubringen war eine weltliche oder geistige Gabe; auch ein Gedicht oder ein interessanter Gedanke, über den sich in größerer Runde diskutieren ließ, galt als solche. Fröhliche Tafelrunden unter Bäumen abzuhalten, war ebenso ein Privileg des römischen Adels.

Bei der Jagd wurde gern in freier Natur gespeist, wie ein berühmtes Mosaik aus dem 4. Jahrhundert in Piazza Armerina auf Sizilien zeigt: In kurzer Tunika und mit kniehohen Wadenbinden lagern die jungen "Waidmänner" bequem im Halbrund auf einer Art "Sitzsack", dem Stibadium, das mit Gras, Laub, Stroh oder duftenden Kräutern gefüllt sein konnte. Sie brauchen nur die Hände auszustrecken, um nach dem gebratenen Vogel auf der Speiseplatte am Boden zu greifen. Damit die Sonne nicht zu sehr brennt, spannt sich über ihnen zwischen den Bäumen ein Sonnensegel ...

Woher der Begriff Picknick kommt

Uralt sind die ersten Bildnisse vom scheinbar sorglosen Nichtstun und vom Genuss im paradiesischen Grünen; auf Vasen, Speiseplatten oder Mosaiken. Und nicht nur aus Europa kennt man sie. In Japan strömte die höfische Gesellschaft wohl schon seit dem 8. Jahrhundert zur Zeit der Kirschblüte, Hanami, aus den kalten Palästen in die Natur. "Pikunikku" heißt es heute, "no-gake" – "sich ins Feld begeben" war laut einer Gedichtsammlung der Zeit damals das Wort dafür.

Dabei wurde der Begriff des Pique-Niques Mitte des 17. Jahrhunderts in Frankreich, konkret 1649 in Paris, gar nicht fürs Draußen-Essen geprägt, sagt Charlotte Trümpler, die vor einigen Jahren eine große Ausstellung zur Kulturgeschichte des Picknicks im Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt/Main kuratierte.

Drinnen in einem Salon traf man sich demnach zum "Aufpicken einer Kleinigkeit", jeder beteiligte sich an den Kosten. Erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts sei damit das ungezwungene Gelage im Freien gemeint. Auf die Idee erheben allerdings auch die Briten Anspruch, pick-nick übersetzen sie wohl nicht mit Kleinigkeit, sie betonen eher den Moment des Genusses.

Picknick im Viktorianischen Zeitalter

Genießen konnte die schönen Momente draußen an der frischen Luft zunächst vor allem die höfische Gesellschaft. Draußen bedeutete, dem steifen Zeremoniell der Paläste, etwa den Tischsitten zu entfliehen. Etwa während einer königlichen Jagd. Die Historikerin Janet Morgan verweist auf einen Holzschnitt aus dem Jahr 1575, der Königin Elisabeth I. zeigt; "mit ihren Hofleuten in einem Gehölz sitzend, ein Tuch vor ihr auf der Erde ausgebreitet, wie sie Taubenpastete mit den Fingern isst".

Besonders oft findet Queen Victoria (1819–1901) in Betrachtungen zur Kulturgeschichte des Picknicks Erwähnung. Demnach traf sie dafür umfangreiche Vorbereitungen im schottischen Balmoral Castle, während ihr Gatte Albert auf der Jagd umherstreifte. Dass Proviant und Gerätschaften zur rechten Zeit am verabredeten Ort eintrafen, und das selbst im Oktober, dafür sorgte sie Morgan zufolge eisern.

Historisches Porträt von Queen Victoria
Die Tradition des Viktorianisches Picknicks auf dem WGT geht auf Queen Victoria (1819–1901) zurück. Bildrechte: imago images / Artokoloro

Picknicks kamen in Victorias Regierungszeit groß in Mode. Die High Society traf sich nicht im schottischen Hochland, sondern am Rande der Cricketmatches in Eton, beim Derby von Epsom oder der Regatta von Henley, wo Diener den Champager reichten. Wer heute an einem solchen kostenpflichtigen Picknick-Event teilnehmen will, sollte sich vorher auf den Websites über Wartelisten, erlaubte Speisen und Getränke informieren, empfiehlt Janet Morgan. Spontan geht gar nichts, drei Jahre im Voraus müsste man sich in Ascot anmelden "für jene begehrten Tage, an denen Mitglieder der Königsfamilie aus Windsor Castle mit der Kutsche kommen".

Eine Flasche Champagner sei pro Person und ab 18 erlaubt; Bier, Cider, Schnäpse, Wein, Pimm oder ähnliche Getränke ausdrücklich verboten. Picknickkörbe und Taschen würden beim Einlass durchsucht. Und vom Thema Kleidung sei man an den Rennbahnen offensichtlich besessen, erklärt Morgan. Für den Derby Day von Epsom gelte für die Herren: "schwarzer oder grauer Gesellschaftsanzug mit Zylinder, Dienstuniform oder vollständige Nationaltracht" tragen. In der Nähe der Parkplätze soll es entspannter zugehen.

Zeichung zeigt Queen Victoria und Prince Albert beim Picknicken
Queen Victoria und Albert bei der Jagd in den schottischen Highlands – mit Picknick zwischendurch. Bildrechte: imago/UIG

Es muss nicht unbedingt lauschig und sonnig sein. Vor allem dann nicht, wenn es um Krone und Empire geht. Aus heutiger Sicht verstörend reisten viktorianische Picknicker einst bis an die Schlachtfelder auf der Krim, wo die Briten 1854 bis 1856 gemeinsam mit den Franzosen gegen die Russen kämpften. Die Revolution des Transportwesens mit Eisenbahn und schnelleren Dampfschiffen machte es möglich.

Den Proviant lieferte Fortnum & Mason in Picknickkörben. Spezialisiert auf feine Speisen für die Aristokraten hatte das Unternehmen nun "luxuriöse Dosengerichte wie Geflügel und Wild in Aspik, mit Wurstbrät umhüllte hartgekochte Eier (Schottische Eier), Schildkrötensuppe, Wildschweinkopf mit Pistazien und Trüffeln, Gänseleberpastete, eingelegte oder grüne Trüffel, angemachter Schinken und Zunge, russische Ochsen- und Rentierzungen, eingelegte Krabben, Mangos aus Bombay" im Angebot. Doch nicht mehr nur die Oberschicht reiste neugierig geworden durch die Medienberichte ins Kriegsgebiet: Noch unverheiratete junge, bürgerliche Damen hofften, dort vielleicht ihren Mann fürs Leben zu finden und eine Ehe anzubahnen, wie die Historikerin Diana Noyce recherchierte.

Picknickkörbe in der Auslage bei «Fortnum and Mason» in London.
Die Picknickkörbe "hampers" gelten als sehr britische Erfindung aus dem 18. Jahrhundert: Robust, weil aus Weide geflochten und stilvoll ausgestattet mit Porzellan und Silberbesteck. Bildrechte: imago images / Danita Delimont

Picknicken – mehr als Essen im Freien

Nicht also nur die Tischsitten lockerten sich mit dem Drang ins Freie. Das Zusammensein auf einer Decke unter Bäumen, mit Blick aufs Meer, die Berge oder unter Umständen ein Schlachtfeld half, sich näherzukommen und unbeobachtet anzubändeln. Anders als zuhause, wo sich Frauen und Männer nach dem Essen in getrennte Räume zurückzogen.

Für die aufkommende Lässigkeit steht ein Bild von Édouard Manet aus dem Jahr 1863: "Le Déjeuner sur l’herbe" – das "Frühstück im Grünen" zeigt zwei Paare. Die jungen Männer sind im Gehrock, die Frauen nackt "und das auf einer etwa zwei Meter mal zwei Meter sechzig großen Leinwand" und "nicht im intimen Kleinformat des erotischen Genres". So erklärt die Kunsthistorikerin Ursula Renner, warum das Gemälde damals Skandal machte. Für sie versinnbildlicht es auch das "Picknick-Prinzip": "Fülle und Überfluss genauso wie Improvisation und Unordnung, ein sinnliches laisser-faire". Die Künstler, vor allem die Impressionisten begannen, dieses Sujet zu lieben.

"Frühstück im Grünen" von Edouard Manet zeigt eine Picknick-Szene, 1863
"Frühstück im Grünen" von Edouard Manet: Ein Gemälde eines Picknicks, das 1863 für Erregung sorgte. Bildrechte: IMAGO / UIG

Einst sehnten sich die Adeligen beim Picknicken in Lustgärten an einen anderen Ort fern der Konventionen, ganz so als wären sie "nur" einfache Landleute oder Hirten. Spätestens mit der französischen Revolution begann das Volk, sich die königlichen Parks oder den Bois de Bologne im Westen von Paris zu erobern. Volksparks wurden später vielerorts in Europa eingerichtet, mit Schildern wie: "Hier können Familien Kaffee kochen".

Der industrielle Aufschwung machte die Stadtluft nicht besser. Nicht mehr nur zu Fuß, mit der Eisenbahn brachen die Picknicker sonntags auf. Die besser Betuchten stiegen bald ins Auto. Für sie entwickelte die Firma Louis Vuitton Anfang des 20. Jahrhunderts sehr edle und stabile Koffer, die echte Raumwunder waren. Nichts für Bergwanderungen mit Picknick freilich. Dafür bevorzugten die praktischen Schweizer leichtes und stapelbares Aluminium"geschirr". In Deutschland erleichterte die Erfindung des Kunststoffes Bakelit den Transport der Utensilien.

Die revolutionäre Kraft des Picknicks

Dass ein Picknick immer nur Flucht in Harmonie und Illusion sei, davon kann keine Rede sein, findet der Politikwissenschaftler Volker Heins. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veranstalteten US-Landarbeiter Picknicks aus Protest, weiß er. Der clevere Gedanke dabei: Die Ordnungskräfte des Staates zu irritieren, die nicht wissen, ob sie eingreifen dürfen, bevor aufgegessen ist.

Gepicknickt wird heute mitten in den Großstädten, in Parks oder auf Hausdächern, mit Grillwürstchen oder Tofu, mit Champagner oder Bier. Junge Leute, die sich im kalifornischen Berkeley mit ihrer Pizza auf den grünen Mittelstreifen im Verkehr setzen, erobern sich laut Heins ein Stück Stadtraum zurück oder zeigen freitags in den europäischen Großstädten, dass sie eine andere Vorstellung von Klimapolitik haben. Sie nähmen sich das "Recht zu krümeln". So wie die ganz in weiß gekleideten Picknicker in Frankreich, die seit Ende der 1980er-Jahre spontan und unangemeldet an öffentlichen Plätzen in Paris erscheinen, um zu tafeln – und wieder zu verschwinden, ehe sie die Polizei vertreiben kann. Aus dem "Dîner en blanc" wurde ein Trend, den inzwischen auch Event-Agenturen in Deutschland bedienen.

Weiß gekleidete Menschen treffen sich am 26.07.2014 zum "White Dinner" (Weißes Essen) am Olympiastadion in Berlin.
Picknick mitten in der Stadt: "White Dinner" im Berliner Olympiastadion Bildrechte: picture alliance/dpa | Hannibal Hanschke

Den schönen Gedanken, dass beim Picknick wie beim Freundschaftsmahl der Griechen alle Gastgeber und Gäste zugleich sein sollten, um nicht nur das Essen, sondern auch Gedanken und Geschichten zu teilen, an den erinnern die Schweizer Riklin-Brüder mit ihrem BIGNIK-Projekt, seit 2011 entsteht in der Region St. Gallen die größte Picknickdecke der Welt. Hunderte Menschen treffen sich inzwischen beim Gastmahl "Dresden is(s)t bunt", das auch ein Statement für eine offene Gesellschaft ist. Dass so ein Essen im Freien Grenzen überwinden kann und das nicht nur im übertragenen Sinne zeigte sich beim Paneuropäischen Picknick am 19. August 1989 bei Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze, die sich damals für hunderte Flüchtlinge aus der DDR öffnete. Die Teilnehmer schnitten sich symbolisch ein Stück Stracheldraht aus einem Grenzzaun. Es sollte der Anfang vom Ende des "Eisernen Vorhangs" sein.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 17. Mai 2024 | 06:30 Uhr

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