Corona-Spätfolgen bei Kindern "Ich hatte andere Pläne für meine Zukunft" – Wie Kinder in Sachsen-Anhalt unter Post-Covid leiden

14. März 2025, 19:48 Uhr

Fünf Jahre nach der Corona-Pandemie ist noch immer unklar, wie viele Kinder in Sachsen-Anhalt von Post-Covid betroffen sind. Denn bisher wurden keine Strukturen aufgebaut, die die Größe des Problems sichtbar machen könnten – zum Leid der Betroffenen, die schon lange Hilfe fordern. Eine neue Ambulanz in Magdeburg soll das jetzt ändern.

"Fritz, ruhig!" Das ist der besorgte Zuruf von Andrea Franke, als ihr Sohn über den Rasen flitzt. Heute schafft Fritz es, mit Rauhaardackel Toni im Garten zu toben. Zumindest für ein paar Minuten. Was für andere Kinder Normalität ist, bedeutet für Fritz jeden Tag viel Kraft, die er an den meisten Tagen nicht hat. Das kann für ihn in einem Crash enden. Denn Fritz hat Post-Covid und das chronische Erschöpfungssyndrom ME/CFS. Das Problem: Spezialisierte Ambulanzen für Kinder- und Jugendliche mit dem Krankheitsbild hat es bislang nicht gegeben.

Nach der Corona-Infektion nicht mehr erholt

Fast drei Jahre ist es her, dass sich das Leben von Familie Franke grundlegend verändert hat. 2022 erkrankten Andrea Franke und ihre Kinder Fritz (11) und Rosi (15) an Corona. Als sich die Symptome nach der Infektion nicht besserten, sondern immer schlimmer wurden, war vor allem bei Fritz klar, hier stimmt was nicht. "Und dann ging eigentlich alles nur noch bergab. Mit Notaufnahmen. Mit stationären Aufenthalten im Krankenhaus. Mit Zusammenbrüchen, mit Schmerzen", erklärt Andrea Franke mit besorgtem Blick.

Familie Franke
Rosi, Fritz und Andrea Franke wollen durchhalten. Bildrechte: MDR/Jamie Ann Meier

Es folgte eine Zeit geprägt von Verzweiflung, Wut und vielen Fehldiagnosen. Nach dem Besuch beim Kinderpsychologen auf Anraten der Schule wurden Fritz eine Leserechtschreibschwäche und Dyskalkulie diagnostiziert. Heute weiß Familie Franke: Ihr Sohn hat keine Probleme beim Lesen, Schreiben oder Rechnen. Nach vergeblicher Suche nach Hilfe in Sachsen-Anhalt und über einem Jahr Wartezeit auf einen Termin in der Long-/Post-Covid Ambulanz für Kinder und Jugendliche in Jena kam die Diagnose: Post-Covid und das chronische Erschöpfungssyndrom ME/CFS. Und das Schicksal schlägt doppelt zu. Auch der 15-jährigen Rosi geht es immer schlechter. Zusammenbrüche nach der Schule, Reizüberflutung, Lungenentzündungen und Zysten am Eierstock sind nur einige ihrer Symptome.

Stichwort: Das chronische Erschöpfungssyndrom ME/CFS Das chronische Fatigue-Syndrom (CFS) bezeichnet eine starke Erschöpfung, die den Alltag enorm einschränkt. Bestehen zusätzlich Muskelschmerzen, spricht man von myalgischer Enzephalomyelitis (ME).

Typisch für ME/CFS ist, dass sich die Symptome nach geringer Anstrengung verschlechtern. Hinzu kommen oft Schlaf- und Konzentrationsstörungen sowie Kreislaufschwäche.

Wie das Syndrom entsteht, ist bisher nicht genau bekannt.

Quelle: Bundesgesundheitsministerium

Garten statt Fußballplatz 

Dass bei ihnen etwas anders ist als bei anderen Kindern, merken Fritz und Rosi täglich. Fritz möchte mit seinen Freunden mithalten, Fußball spielen, kommt aber oft an seine Grenzen. "Wenn ich mich mit Freunden treffe, dann kann ich nicht so viel machen. Sonst kriege ich wieder einen Crash", erzählt Fritz. Der Crash meint bei Post-Covid und ME/CFS Betroffenen eine Verschlechterung des Zustands nach Überlastung. Schon bei alltäglichen Aktivitäten wie dem Einkaufen fällt Fritz vor Erschöpfung um. Auch für Hobbies reicht die Energie nicht mehr. Jetzt heißt es oft: Garten statt Fußballplatz. Seit seiner Erkrankung konnte Fritz keinen Geburtstag mehr mit seinen Freunden feiern. In die Schule geht er nur zwei bis drei Stunden am Tag – wenn es gut läuft.

Unser Alltag ist eigentlich furchtbar. Man lebt nur dafür, dass das Kind ein paar Stunden in die Schule gehen kann.

Andrea Franke Mutter

Der Zustand von Rosi hat sich über die letzten Monate verschlechtert. An manchen Tagen kann sie kaum allein laufen, laute Geräusche werden zur Qual, Schmerzen im ganzen Körper. Bis vor kurzem konnte sie mehrere Wochen nicht mehr am Unterricht teilnehmen. "Das sind sehr verschiedene Phasen. Manchmal kann ich mehr machen, manchmal geht aber auch gar nichts", erklärt die 15-jährige. Viele ihrer Mitschüler verstehen nicht, was bei Rosi los ist, distanzieren sich: "Wenn überhaupt verstehen das zwei Leute aus meiner Klasse, die auch noch mit mir reden." Für das Abitur wird sie durch ihre Fehlzeiten voraussichtlich nicht zugelassen werden. Für Familie Franke bedeutet dieser Alltag wenig Planungssicherheit. "Unser Alltag ist eigentlich furchtbar. Man lebt nur dafür, dass das Kind ein paar Stunden in die Schule gehen kann", so Andrea Franke.

Bisher keine Anlaufstelle in Sachsen-Anhalt

Mittlerweile bemühen sich die besorgten Eltern seit mehr als drei Jahren um Hilfe in Sachsen-Anhalt. Vergeblich. Denn bisher gab es im Land keine Ambulanz für Kinder mit Post-Covid, also auch keine Strukturen für die Erforschung von Long-Covid, Post-Covid und ME/CFS. "Bezeichnend ist ja, dass wir in Thüringen angebunden sind, als Leute, die in Sachsen-Anhalt wohnen", antwortet Sebastian Franke auf die Frage nach den Versorgungsmöglichkeiten für Fritz und Rosi im Land.

Etwa vier Mal im Jahr muss Familie Franke den Weg nach Jena auf sich nehmen. Eine große Belastung für die Geschwister, für die an manchen Morgen schon das Aufstehen zur Herausforderung wird. Auch wenn der Zustand von Rosi und Fritz in Jena vierteljährlich begutachtet wird, eine Behandlung, die zur Besserung beigetragen hat, gab es noch nicht. "Ich würde mir nichts mehr wünschen, als dass es therapeutische Möglichkeiten gibt, irgendwas zu machen. Dass sich ein stabiler Zustand entwickelt, so dass man sagen kann, man hat wieder eine Normalität", so Sebastian Franke.

Petition im Landtag fordert interdisziplinäre Ambulanz

Mit dem Problem ist Familie Franke nicht allein. Bereits 2023 wandte sich eine betroffene Mutter mit einer Petition an den Landtag in Sachsen-Anhalt. Ihre Forderung: die Errichtung einer interdisziplinären Ambulanz für betroffene Kinder und Jugendliche von Long- und Post-Covid, Post Vac und ME/CFS-Erkrankte zur Unterstützung der niedergelassenen Haus- und Fachärzte. Diese seien häufig nicht ausreichend geschult oder könnten die Betreuung zeitlich nicht bewältigen. Auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT beim Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt im Januar hieß es: "Ein Bedarf für die Einrichtung von neuen Kompetenzzentren neben den bereits bestehenden Strukturen wird zurzeit nicht gesehen." Damals unverständlich für die Betroffenen.

Auf Initiative des Bundes soll es nun aber doch spezialisierte Hilfe in Sachsen-Anhalt geben.

Zentrale Anlaufstelle für Betroffene in Sachsen-Anhalt

Dr. Redlich
Dr. Antje Redlich leitet die Universitätskinderklinik Magdeburg kommissarisch. Bildrechte: MDR/Jamie Ann Meier

In Magdeburg entsteht ein spezialisiertes Zentrum für Kinder, die an den Spätfolgen einer Corona-Infektion oder ähnlichen postakuten Erkrankungen leiden. Das Ziel ist es, eine zeitnahe, maßgeschneiderte und nachhaltige Betreuung zu ermöglichen. Das Zentrum soll an der Universitätskinderklinik und der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Magdeburg aufgebaut werden. Antje Redlich leitet die Universitätskinderklinik Magdeburg kommissarisch und ist verantwortlich für die Ausrichtung und das Management der Klinik.

"Es ist vor allem geplant, eine ambulante Struktur zu etablieren, bei der Eltern bzw. Kinder mit Verdacht auf Long-Covid-Symptomen sich bei uns melden können, diagnostiziert werden, sie einen Plan bekommen, wie man sie am besten behandelt. Und die Daten fließen zusammen. Wir werden weiter Wissen generieren, um sie immer besser behandeln zu können", erklärt Redlich. Gleichzeitig soll eine Forschungsstruktur etabliert werden, mit der wissenschaftliche Erkenntnisse zur Diagnostik, Behandlung und Prognose der Krankheitsbilder gesammelt werden können. Bisher gibt es allerdings keine kausal für die Ursachen ausgewiesene medikamentöse Therapie von Post-Covid bei Kindern.

Eine Frau steht im Herbstwald 1 min
Bildrechte: imago images/Rolf Poss

Eine Problematik die auch Hans-Henning Flechtner hervorhebt. Er leitet die Universitätsklinik für Kinder und Jugendpsychiatrie in Magdeburg. "Wir befinden uns in der Situation, dass wir nicht in den Reitstall gehen, das Pferd satteln und losreiten. Sondern wir satteln das Pferd im Reiten. Das heißt: Wir beginnen und müssen dann gucken, wie kann man die Standards entwickeln für die körperliche Diagnostik, für die psychische Diagnostik und für die Betreuung dieser Kinder und Jugendlichen, damit sie wieder in einen ungestörten Alltag zurückfinden" so Flechtner.

Dr. Flechtner
Prof. Dr. Hans-Henning Flechtner leitet die Universitätsklinik für Kinder und Jugendpsychiatrie in Magdeburg. Bildrechte: MDR/Jamie Ann Meier

Anzahl betroffener Kinder in Sachsen-Anhalt unklar

Wie viele Betroffene es in Sachsen-Anhalt genau gibt, ist laut Antje Redlich bisher unklar. "Man rechnet in Deutschland mit 70.000 bis 90.000 betroffenen Kindern. Da es in Sachsen-Anhalt keine etablierte Struktur gibt, sind nur Einzelfälle bekannt, genaue Zahlen für Sachsen-Anhalt können erst mit der etablierten Struktur herausgefunden werden" so Antje Redlich. Betroffene können sich ab sofort an in der Universitätsmedizin in Magdeburg vorstellen.

Betroffene oft nicht ernst genommen

Nicole Anger
Nicole Anger ist kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Linksfraktion in Sachsen-Anhalt Landtag. Bildrechte: MDR/Jamie Ann Meier

Nicole Anger ist kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Landtag von Sachsen-Anhalt. Im Petitionsausschuss setzte sie sich für eine Ambulanz für Kinder und Jugendliche mit Post-Covid ein. Auch darüber hinaus ist sie im Austausch mit Betroffenen und weiß, vor welchen Problemen Familien mit ihren Kindern stehen. "Die Betroffenen haben oft das Problem, dass sie nicht ernst genommen werden. Dass das Leiden unter ME/CFS als psychisch abgestempelt wird" so Anger. Die entstehenden Strukturen seien wichtig, damit Betroffene Hilfe bekommen und für die Erforschung der Erkrankung.

Trotzdem befürchtet sie, die Ausrichtung des neuen Zentrums könne eine falsche Außenwirkung haben und Vorurteile bekräftigen. "Meine erste Reaktion war in der Tat leicht freudig, weil wir endlich es geschafft haben, dass eine Ambulanz für Kinder und Jugendliche auf den Weg gebracht wird. Aber der Wehrmutstropfen folgte sogleich, weil es wieder mit der Psychiatrie verkoppelt wird. Und ME/CFS und Long-Covid Folgen sind keine psychologische Erkrankung. Sie sind eine organische Erkrankung und da brauchen wir den Fokus drauf", so Anger.

Sorge vor Stigmatisierung

Die Angst vor der Stigmatisierung teilen auch Andrea und Sebastian Franke. Durch die Krankheitsgeschichte von Fritz und Rosi mussten sie viele negative Erfahrungen machen. Oft werden sie nicht ernst genommen – von Ärzten, dem sozialen Umfeld oder in der Schule. Denn die Erkrankung ist für Außenstehende nicht immer sichtbar. "Wenn Fritz in der Schule ist, wirkt er normal, man sieht es ihm nicht an", erzählt Andrea Franke. Eine psychologische Betreuung von betroffenen Kindern sei wichtig, trotzdem bleibt die Sorge, die Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie könne eine falsche Außenwirkung haben. "Aufgrund der schlechten Erfahrungen, die man gemacht hat, ist es eher schwierig. Aber es gibt dann wenigstens eine Long-Covid-Ambulanz in Sachsen-Anhalt", sagt Andrea Franke.  

Nüchterner Blick in die Zukunft

Aktuell fällt Familie Franke der Optimismus schwer. "Wir machen uns Sorgen um die Zukunft der Kinder" erklärt Andrea Franke bedrückt. Für sie ist die zentrale Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche mit Post-Covid in Sachsen-Anhalt ein Schritt in die richtige Richtung, aber noch nicht die Lösung für Fritz und Rosi. Bisher müssen sie mit einer symptomatischen Behandlung, zum Beispiel mit Schmerzmitteln, Nahrungsergänzungsmitteln oder Stützstrümpfen klarkommen.

Rosi und Fritz
Die Geschwister Rosi und Fritz hoffen weiter auf Hilfe gegen ihre Long-Covid-Leiden. Bildrechte: MDR/Jamie Ann Meier

Dabei wünscht sich Fritz nur eins: "Dass ich gesund werde, dass es ein Gegenmittel gibt." Rosi wollte Abitur machen und studieren, vielleicht Hebamme werden. "Ich würde mir einfach nur wünschen, dass die Krankheit weg ist, weil ich andere Pläne für meine Zukunft hatte und die jetzt leider nicht mehr machen kann. Und mein Leben, wie es andere in meinem Alter machen, nicht ausleben kann." Bis es endlich standardisierte medikamentöse Behandlungsmethoden für Kinder mit Post-Covid gibt, heißt es für Fritz und Rosi: durchhalten.

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MDR (Jamie Ann Meier, Mario Köhne)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 14. März 2025 | 19:00 Uhr

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