
Geburtshilfe Wie Familien in Sachsen-Anhalt von einer neuen Geburten-Leitlinie profitieren
Hauptinhalt
19. Juni 2022, 16:59 Uhr
Vor anderthalb Jahren ist eine neue Geburten-Leitlinie veröffentlicht worden. Demnach müsste sich die Geburtshilfe eigentlich radikal verändern: Darin wird eine 1:1-Betreuung empfohlen. Medizinische Eingriffe während der Geburt, die in Krankenhäusern Standard sind, sollen unterlassen werden – weil sie mehr schaden als nutzen. Wie Hebammen und Ärzte in Sachsen-Anhalt mit der neuen Leitlinie umgehen.
"Störe keine Geburt" – so könnte die neue "S3-Leitline zur Vaginalen Geburt am Termin" auf den Punkt gebracht werden. Doch in den Kreißsälen in Sachsen-Anhalt sieht die Realität oft anders aus. Die Frauen bekommen vorsorglich eine unangenehme Venenkanüle in Hand oder Arm gestochen, viel zu häufig werden sie vaginal untersucht oder ans CTG angeschlossen, mit dem die Herztöne des Kindes und die Wehen der Mutter gemessen werden.
Seit Veröffentlichung der Leitlinie im Dezember 2020 gilt jedoch eigentlich: Es soll keine Interventionen geben, die keinen nachgewiesenen Nutzen haben. Und da bleibt nicht viel übrig.
Was ist die S3-Leitlinie?
In Leitlinien geben Expertinnen und Experten ihren Fachkollegen Empfehlungen. Das gibt es in vielen Bereichen der Medizin. Stufe 3, also S3, ist die höchste Qualitätsstufe in Deutschland. Alle beteiligten Fachgesellschaften und die Betroffenen, in diesem Fall Schwangere oder ehemals Schwangere, samt weiterer Interessengruppen, waren einbezogen. Systematisch wurden alle Studien zum Thema weltweit gesichtet. Das rund 250 Seiten lange Dokument gilt deutschlandweit, hat Empfehlungscharakter und soll Orientierung bieten. Kliniken, Geburtshäuser und Hausgeburtshebammen sollten es lesen und bestenfalls umsetzen.
Für wen genau gelten die Empfehlungen?
Die S3-Leitlinie zur Vaginalen Geburt am Termin gilt für Geburten, die genau darauf zutreffen. Zielgruppe sind Schwangere bzw. Gebärende und deren Kinder, die zwischen Schwangerschaftswoche 37+0 bis 41+6 auf die Welt kommen. Weitere Bedingung: Es darf nur ein Kind sein und das muss aus Schädellage geboren werden, also mit dem Kopf voran.
Geburtserlebnis im Blick – das will die Leitlinie
Der Fokus liegt nicht mehr ausschließlich darauf, dass das Kind gesund sein soll. Es geht vielmehr um ein gutes, selbstbestimmtes Geburtserlebnis für die ganze Familie – wozu natürlich auch gehört, dass die Geburt sicher sein muss. In der Leitlinie ist es so formuliert:
Ein wesentliches Ziel […] ist die bestmögliche körperliche und emotionale Gesundheit für Mutter und Kind.
Eingriffe in den Geburtsprozess – sogenannte Interventionen – soll es nur geben, wenn "mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit mehr Nutzen als potenzieller Schaden erzielt wird". Zu den Interventionen zählen beispielsweise das dauerhafte Schreiben eines CTGs oder das Legen eines intravenösen Zugangs, auch Flexüle genannt. Beides wird für gesunde Schwangere nicht mehr empfohlen. Interventionen sollen zudem nur in Abstimmung mit der Gebärenden vorgenommen werden. Wenn es keinen Anlass dazu gibt, sollen sie weggelassen werden. Das war bisher besonders in Kliniken nicht selbstverständlich.
Die wichtigsten Punkte der Leitlinie
- 1:1-Betreuung wird empfohlen, für eine Gebärende soll eine Hebamme zuständig sein
- Dauer-CTG ohne Anlass wird nicht mehr empfohlen – allerdings ist die 1:1 Betreuung Voraussetzung
- kein standardmäßiges Legen einer Flexüle in die Vene
- vaginale Untersuchung ohne Grund oder Wunsch der Gebärenden nur alle vier Stunden, auch zum Ende der Geburt hin
- der Gebärenden soll angeboten werden, die Wehen zur Linderung der Schmerzen im Wasser zu verarbeiten
- Austreibungsphase ist in Austrittsphase umbenannt, da das Wort negativ konnotiert ist
- mehr Zeit für alle Geburtsphasen
- die Gebärende soll sich von ihrem eigenen Pressdrang leiten lassen und nicht angeleitet werden
Das gesamte Dokument kann hier kostenfrei heruntergeladen werden.
Welche Rechte haben die Schwangeren?
Schwangere haben das Recht darauf, nach neuesten medizinischen Erkenntnissen behandelt zu werden. Darauf, dass die Leitlinie exakt umgesetzt wird, können sie jedoch nicht bestehen. Nachfragen ist allerdings unbedingt erlaubt und kann beispielsweise die Wahl des Geburtsortes beeinflussen. Frauen können den Wunsch nach Einhaltung der Leitlinie beispielsweise im Vorgespräch mit der Klinik äußern oder, falls vorhanden, in ihren Geburtsplan schreiben.
Das sagt eine Hausgeburtshebamme zur Leitlinie
Susanne Gonschior arbeitet im Salzlandkreis als Hausgeburtshebamme – aus Überzeugung. Sie betreut ihre Schwangeren und Gebärenden schon lange so, wie es nun die Leitlinie empfiehlt. "Ich habe mir überhaupt keine Gedanken gemacht, dass man überhaupt so eine Leitlinie entwickeln müsste, weil das für mich selbstverständlich ist", sagte sie MDR SACHSEN-ANHALT.
Von der aktuellen Geburtshilfe in Kliniken hat die Hausgeburtshebamme keinen guten Eindruck: "Weil immer noch sehr viel über die Frauen hinweg entschieden wird. Das sind die Erfahrungen, die ich von Frauen mitgeteilt bekomme, die eine Verlegung erleben mussten, wo also die Geburt nicht zu Hause zu Ende gehen konnte". Entscheidungen würden seitens des Personals getroffen, weniger in Mitbestimmung mit den Eltern. "Wenn medizinische Notfälle sind, ist das auch in Ordnung", so Susanne Gonschior. "Aber viele Verlegungen werden prophylaktisch gemacht, zum Schutz. Und da kann man die Frauen immer noch in Entscheidungsprozesse miteinbeziehen."
Für eine normale Geburt würde Medizin laut Susanne Gonschior überhaupt nicht gebraucht. "Man braucht Achtsamkeit, man braucht Wachheit, Klarheit und man braucht bestenfalls ein Holz-Hörrohr, um die Herztöne des Kindes zu hören. Oder auch ein kleines Dopton, so ein kleines Ultraschallgerät, womit man die Herztöne messen kann." Sie selbst hat im vergangenen Jahr rund 50 Kinder bei Hausgeburten in die Welt begleitet. Ihren Schwangeren empfiehlt sie, die Kurzfassung der Leitlinie zu lesen, falls sie doch in eine Klinik müssen.
Das sagen Geburtskliniken im Land
Vorneweg: Die Leitlinie allein ist nicht die Lösung. Auch die Strukturen im Gesundheitssystem müssen sich ändern, damit die Leitlinie bestmöglich umgesetzt werden kann – wenn es beispielsweise um zu wenig Personal geht.
Krankenhaus St. Marienstift in Magdeburg
Im Krankenhaus St. Marienstift in Magdeburg hat die vor anderthalb Jahren veröffentlichte S3-Leitlinie bereits zu Veränderungen in der Geburtshilfe geführt – auch wenn man hier nach eigener Aussage schon zuvor sehr nah an der Leitlinie gearbeitet hat. "Wir wurden aufgestockt und arbeiten seit Januar 2022 im Zweiersystem, das heißt zwei Hebammen pro Schicht", sagte die Leitende Hebamme Melanie Hennig MDR SACHSEN-ANHALT. Das ermögliche eine individuellere und intensivere Betreuung für jedes einzelne Paar. "Aber es gibt natürlich auch Tage, wo mehr zu tun ist. Wo man also auch ein bisschen von diesem 1:1-Betreuungsprinzip abweichen muss." Jährlich kommen auf ihrer Geburtsstation etwa 1.000 Kinder zur Welt, also zwei bis drei pro Tag.
Mit der Leitlinie haben sich laut Melanie Hennig im St. Marienstift die CTG Kontrollen, die unter der Geburt angesetzt sind, gelockert. "Wir haben uns jetzt so ein Dopton angeschafft, das heißt, dass wir kurzzeitige CTG-Kontrollen oder Herztonaufzeichnungen aufnehmen können, ohne dass die Frauen dauerhaft oder sehr häufig am CTG angeschlossen sind." Und die Wünsche der Frauen und Familien würden sowieso einfließen.
"Was wir noch machen müssen, sind zum Beispiel bei einem vorzeitigen Blasensprung die Überwachung oder die Einleitungs-Methoden danach. Die Zeit, wann wir einleiten, das muss noch ein bisschen erweitert werden. Da sind wir dran." Das Kollegium sei im regelmäßigen Austausch mit den Ärzten, woran in der nächsten Zeit gearbeitet werde. Generell habe die S3-Leitlinie alle bestärkt, denn vieles sei bereits ganz selbstverständlich umgesetzt worden – dass Frauen in aufrechter Position entbinden können, sie essen und trinken dürfen, und Wünsche wie nach dem Auspulsieren der Nabelschnur erfüllt werden.
MDR (Luise Kotulla)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 19. Juni 2022 | 19:00 Uhr