DDR-AusstellungTod an der Grenze: Kaßberg-Gefängnis in Chemnitz erinnert an DDR-Schicksale
Im Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis in Chemnitz ist zurzeit die Wanderaustellung "An der Grenze erschossen" zu sehen. Sie erinnert an die Schicksale der Menschen, für die die Flucht aus der DDR tödlich endete. Zeitzeugen nehmen das zum Anlass, um an die gesellschaftliche Verantwortung zu appellieren – für die Aufarbeitung der SED-Vergangenheit und eine Erinnerungskultur ohne Nostalgie.
- Im Kaßberg-Gefängnis erinnert eine Ausstellung an Fluchtopfer der DDR.
- Ein damals freigekaufter Häftling engagiert sich nun als Zeitzeuge.
- Kritik gibt es an der Aufarbeitung der SED-Diktatur und an DDR-Nostalgie.
"Ich bin das erste Mal seit 43 Jahren wieder hier", erzählt Michael Teupel bei MDR KULTUR. Anfang 1982 kam er auf den Kaßberg. Damals war er 19 Jahre alt und hatte schon Gefängnisstrafen im "Roten Ochsen" in Halle und in Bandenburg-Görden hinter sich, denn er hatte versucht aus der DDR zu fliehen. Chemnitz-Kaßberg sollte seine letzte Station auf dem Weg in den Westen sein: Er war einer von rund 33.000 politischen Gefangenen, die von der BRD freigekauft wurden. Im Kaßberg-Gefängnis wurden 90 Prozent dieser Fälle abgewickelt.
Zeitzeuge erinnert an DDR-Unrecht
Wenn Michael Teupel spricht, ist es still im heutigen Lern- und Gedenkort. Viele, die bei der Ausstellungs-Eröffnung dem Zeitzeugen-Gespräch zuhören, sind selbst ehemalige Häftlinge. Konzentrierte Gesichter sind zu sehen. Vieles von dem was Teupel sagt, sorgt für Nicken im Publikum.
Dabei geht es in der Wanderausstellung, die von der Behörde des Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Sachsen-Anhalts erarbeitet wurde, um diejenigen, die darüber nicht erzählen können. "Wir sind nicht an der Grenze erschossen worden. Wir haben überlebt", sagt Teupel: "Wir sind das denen schuldig, die an der Grenze erschossen worden sind."
Fluchtversuch aus der DDR endete für viele tödlich
75 Männer und Frauen sind bis 1989 an der 342 Kilometer langen Grenze des heutigen Sachsen-Anhalt zu Niedersachen gewaltsam umgekommen. Unter den Opfern ist auch ein sechs Monate altes Kind oder der 15-jährige Heiko Runge, der mit 51 Schüssen getötet wurde. Um sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, listet die Sonderausstellung in zehn Aufstellern ihre Namen auf. Sie zeichnen auch die ehemalige Grenze auf einer Karte nach und markiert die Orte, an denen die Menschen ums Leben kamen.
Wir sind das denen schuldig, die an der Grenze erschossen worden sind.
Michael Teupel | Zeitzeuge
Michael Teupel setzt sich als Zeitzeuge dafür ein, dass die Ausstellung an möglichst vielen Orten gezeigt wird, insbesondere an der Grenze oder an Gedenkstätten wie dem Kaßberg-Gefängnis. "Das ist nicht nur meine Aufgabe, das ist meine Verpflichtung", sagt Teupel.
Gedenkstätte Kaßberg-Gefängnis will junge Menschen erreichen
Der Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis stellt in seiner Ausstellung vor allem die Schicksale der Menschen in den Vordergrund, die hier in Haft waren – ob zu DDR- oder NS-Zeiten. "Es ist eine gute Herangehensweise, über die Biografien die Themen des Ortes zu erschließen", sagt die Leiterin des Gedenkortes, Steffi Lehmann.
Viele Schulklassen kämen hierher. "Wir versuchen denen nicht die Welt zu erklären. Die ziehen ihre eigenen Schlüsse für ihr eigenes Demokratieverständnis. Und dazu wollen wir ein bisschen beitragen", so Lehmann.
Kritik an Nostalgie und mangelnder Aufarbeitung
Den Blick in die Vergangenheit zu richten, um daraus etwas für die Zukunft zu lernen ist das Eine, Gerechtigkeit für diejenigen, die Leid getragen haben, das andere. Der Zeitzeuge Michael Teupel kritisiert als Betroffener vor allem die juristische Aufarbeitung. "An den Rechtsstaat glaube ich nicht mehr", sagt er.
Sein Verfahren auf Haftfolgeschäden habe 13 Jahre gedauert, sagt Teupel: "Zu 95 Prozent sind diese Anträge, die Verfahren alle eingestellt worden. Ein Richter wollte mich sogar entmündigen lassen, weil ich für zwei Monate nicht mehr in der Lage war, den Prozess zu verfolgen, weil der mich so stark mitgenommen hat."
Und eine Frage taucht in dem Zusammenhang immer wieder auf: Kann die derzeitige gesellschaftliche Stimmung und politische Lage mit fehlender oder falscher DDR-Aufarbeitung zu tun haben? Der Landesbeauftragte Sachsen-Anhalts, Johannes Beleites, plädiert in der Sache für eine offene Selbstkritik: "Wenn ich jetzt schaue, wie viele Menschen meinen, die DDR sei besser gewesen als die Gesellschaft, in der wir jetzt leben, dann müssen wir uns selbstkritisch fragen, was wir vielleicht falsch gemacht haben. Oder warum wir nicht in die Breite gedrungen sind."
Eine mögliche Antwort könnte, so Beleites, sein, dass das Erinnern an die SED-Diktatur "wie ein Staatsgedenken" wahrgenommen werde. "Und wenn man jetzt staatskritisch eingestellt ist, dass man dann denkt: Das ist auch falsch."
Michael Teupel kann die teils vorherrschende DDR-Nostalgie nicht verstehen: "Wenn Leute behaupten, in der DDR war nicht alles schlecht. Was war an einer Diktatur Gutes? Also mir fällt da nichts ein." Der Zeitzeuge und Erinnerungsorte wie das ehemalige Kaßberg-Gefängnis setzen sich dafür ein, auch in Zukunft an diejenigen zu erinnern, die in Haft saßen oder erschossen wurden. Und sie können immer wieder Erfolge verzeichnen: In Helmstedt etwa wird nun auf Initiative von Teupel ein Platz nach Fred Woitke benannt. Er wurde am 21. April 1973 im Alter von 23 Jahren in Marienborn erschossen.
Mehr Informationen zur Ausstellung:
Sonderausstellung "An der Grenze erschossen"
Adresse
Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis
Kaßbergstr. 16 c
09112 Chemnitz
Öffnungszeiten
19. März bis 13. April 2025
Mittwoch bis Sonntag | 10 bis 17 Uhr
Mehr zur Ausstellung erfahren Sie auf der Website des Lern- und Gedenkortes Kaßberg-Gefängnis.
Redaktionelle Bearbeitung: tis, cbü
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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 21. März 2025 | 16:10 Uhr