Wahre DDR-Geschichte Preisgekrönter Debütroman: Von der Stasi zur Sexarbeiterin rekrutiert
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22. Oktober 2024, 04:00 Uhr
In der DDR wird die Verkäuferin Uta von der Stasi angeworben: Sie soll während der Messen in Leipzig Männer ausspionieren – als Sexarbeiterin. Der Roman "Was du kriegen kannst" ist das Debüt des Leipziger Autors und Filmemachers Clemens Böckmann und basiert auf einer wahren Geschichte. Schon vor der Veröffentlichung wurde der Roman mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung geehrt und für den Aspekte-Literaturpreis nominiert. Unser Kritiker meint: Einer der besten Romane über die DDR, der in den letzten Jahren geschrieben wurde.
- Der Roman "Was du kriegen kannst" erzählt, wie eine Frau im Auftrag der Stasi zur Sexarbeiterin und Spionin wird.
- Die Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten und beruft sich auf historische Akten und Oral History.
- Clemens Böckmann beschreibt die DDR detailreich, ohne dabei in Ostalgie zu verfallen.
In der letzten verbliebenen Schwulenbar in der Leipziger Innenstadt treffen sie sich: Uta und der Ich-Erzähler. Die Treffen sind die letzte Station einer faszinierenden Biografie. Anfang der 70er-Jahre wird Uta, die als Verkäuferin in einem Möbelgeschäft arbeitet, von der Stasi als inoffizielle Mitarbeiterin angeworben. Die Tätigkeit als "IM Anna" verspricht ein aufregenderes Leben als die triste Dorfexistenz als alleinerziehende Mutter in der Nähe von Zwickau am Rand des Erzgebirges. Und so wird Uta zu den Messen nach Leipzig geschickt, um Männer aufzugabeln und Bericht über sie zu erstatten. Sexarbeit und Spionage gehen Hand in Hand.
DDR-Geschichte: Sexarbeiterin wird Täterin und Opfer zugleich
"Was du kriegen kannst" ist aber kein Agentenabenteuer. Und von den identitätspolitischen Debatten rund um den Osten, die jüngere Romane über die DDR und die Nachwendezeit prägen, hält Böckmanns Debüt ebenfalls Abstand. Er besinnt sich auf die Kraft historischer Quellen: Akten und Oral History-Passagen von Uta, gemeinsam mit Einschätzungen des Ich-Erzählers, ergeben ein komplexes Bild von Utas Geschichte.
Manchmal widersprechen sich die Erzählungen. Uta erzählt eine Geschichte anders, als sie sie in ihrem Bericht aufgeschrieben hat, ihre Verbindungsmänner erzählen wiederum eine andere Version. Details stimmen nicht überein, die Akten füllen Erinnerungslücken, und Utas Erinnerung füllt Lücken in den Akten. Böckmann montiert diese verschiedenen Quellen kunstvoll aneinander und lässt so ein vielschichtiges Bild seiner Hauptfigur entstehen.
Uta handelt aus Überzeugung, aber später auch unter Zwang, wird selbst von der Stasi überwacht. Ob Zersetzungsmaßnahmen gegen sie angeordnet waren oder doch nur alkoholbedingte Paranoia überhandnimmt, bleibt offen. Uta ist in der DDR beides, Täterin und Opfer. "Was du kriegen kannst" zeigt dabei eindrücklich, dass die Geschichte eine unzuverlässige Erzählerin ist.
Unheimliche Kontinuitäten: Utas Geschichte endet nicht mit der DDR
Böckmanns Roman erzählt von den Kontinuitäten, davon, dass mit dem Untergang der DDR nicht einfach ein Reset-Knopf gedrückt wurde: Die Erfahrungen mit Männern und ihr Alkoholismus verfolgen Uta auch nach der Wende. Sie stürzt ab, landet mehrfach im Entzug, nur um am Ende den Wein mit lauwarmem Wasser verdünnt zu trinken.
Die Kontinuitäten, die Böckmann beschreibt, sind aber nicht nur persönlicher Natur. Eine der unheimlichsten Stellen ist eine kleine Passage über einen der Verbindungsmänner Utas, der auf das Neonazi-Milieu in der DDR angesetzt wird: "Er ist keineswegs unzufrieden mit der Versetzung. Anders als zuvor erscheinen ihm die neuen Objekte der Überwachung disziplinierter, zuverlässiger und freundlicher, mehrfach notiert er: höflich."
Sinnliches Zeitporträt ohne Ostalgie und voller Ambivalenz
Neben der faszinierenden Geschichte, die Böckmann von einer Freundin zugetragen wurde, beeindruckt vor allem, wie sinnlich der Roman die DDR beschreibt. Möbel, Räume, Kleidung, die Kneipen, Interhotels und Gästehäuser werden sofort plastisch. An manchen Stellen kann man Alkohol und den Zigarettenrauch förmlich schmecken und riechen. Dabei lädt der Roman an keiner Stelle dazu ein, in Ostalgie zu verfallen.
Im Gegenteil: Wie die BRD Noir-Strömung vor ein paar Jahren die Schattenseiten der Adenauer'schen Wirtschaftswunderrepublik ausgeleuchtet hat, so erzählt "Was du kriegen kannst" hier ausgesprochen ambivalent von den Tätern der DDR, von der erdrückenden Spießigkeit des real existierenden Sozialismus und von der Hoffnung, irgendwie aus dem bürgerlichen Muff entkommen zu können. Und davon, wie gut dieser Staat darin war, die Hoffnungen seiner Bürger für sich zu instrumentalisieren. "Was du kriegen kannst" ist so einer der besten Romane über die DDR, die in den letzten Jahren geschrieben wurden.
Informationen zum Buch
Clemens Böckmann: "Was du kriegen kannst"
Erschienen am 21. Oktober 2024 im Carl Hanser VerlagSprache
416 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3446281219
Redaktionelle Bearbeitung: jb, hro
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 22. Oktober 2024 | 08:10 Uhr