17. Juni 1953 Sowjetische Panzer gegen Arbeiter und Bauern in Thüringen

17. Juni 2023, 12:00 Uhr

Freie Wahlen, Freiheit für Inhaftierte, Rücknahme der Normerhöhung und bessere Versorgung fordern Tausende Arbeiter und Bauern im Gebiet des heutigen Thüringens. Der Volksaufstand im Sommer 1953 in der DDR dauert nur ein paar Stunden. Dann gibt es eine Verhaftungswelle und sogar standrechtliche Erschießungen.

Der 17. Juni 1953 ist ein freundlicher Sommertag. Doch Tausende Arbeiter sehen keine Sommeridylle. Die Normerhöhung der SED, die in Wirklichkeit eine Lohnkürzung darstellt, bringt das Fass zum Überlaufen. "Mehr arbeiten, besser leben": Diese Parole kommt nicht gut an bei den Werktätigen. Spontan wird die Arbeit niedergelegt beziehungsweise gar nicht erst angetreten.

Bei Carl Zeiss Jena wird ein Streik-Komitee gebildet. Es soll mit den SED-Funktionären verhandeln. Inzwischen sind mehrere Tausend Menschen auf dem Holzmarkt zusammengekommen. Sie stürmen die SED-Kreisleitung. Dann kommen sowjetische Soldaten mit Panzern und räumen das Gebäude, nehmen "Rädelsführer" fest. Einer von ihnen wird am 18. Juni standrechtlich erschossen.

Explosive Lage in Sömmerda

Größter Arbeitgeber in Sömmerda ist damals die Rheinmetall. Seit Januar 1952 gibt es mehrere Entlassungswellen. Unmittelbar vor dem 17. Juni 1953 sind circa 800 Arbeiter betroffen. Sie erhalten ein Schreiben von der Betriebsleitung:

Da in unserem Betrieb z.Zt. keine geeignete Arbeit für Sie vorhanden ist und wir den Arbeitskräfteplan mit dem Finanzplan in Übereinstimmung halten müssen, sind wir leider gezwungen, das mit Ihnen bestehende Arbeitsverhältnis mit Zustimmung der Betriebsgewerkschaftsleitung zu kündigen.

Aus einem Schreiben der Betriebsleitung der Rheinmetall Sömmerda

So gehen auch in Sömmerda Tausende Menschen auf die Straße. Gegen 9:30 Uhr sind es 4.000 bis 6.000. Eine Arbeiterdelegation verhandelt mit dem SED-Kreissekretär und dem Vorsitzenden des Rates des Kreises. Eine Stunde später wird eine Resolution verlesen. Als der Chef des Rates des Kreises die Demonstranten aufruft, die DDR-Hymne zu singen, stimmen sie die dritte Strophe des Deutschlandliedes an.

Um 14 Uhr greift das russische Militär ein und verhängt den Ausnahmezustand. Das bedeutet: Nicht mehr als drei Personen dürften zusammenstehen, Ausgangssperre bei Dunkelheit und Schusswaffen dürfen eingesetzt werden. Auch in Sömmerda gibt es noch in der Nacht zahlreiche Verhaftungen.

Der Unmut der Bauern

Die Situation in den Dörfern ist nicht weniger angespannt. Im Zug der Bodenreform werden 1945 Landbesitzer mit mehr als 100 Hektar Land enteignet. Die Flächen werden unter sogenannten Neubauern aufgeteilt, oft Flüchtlinge aus dem Osten, die vorher als Bergleute etwa in Schlesien gearbeitet haben.

Mehr schlecht als recht bestellen sie ihre Felder, können das Ablieferungssoll kaum schaffen. Es fehlen Maschinen, Tiere, Saatgut. Die Kollektivierung soll nun Abhilfe schaffen. Doch viele alteingesessene Bauern, die ihre Felder seit Generationen bestellen, lehnen das ab. Sie geraten ins Visier der SED. Viele werden wegen angeblicher Wirtschaftsstraftaten belangt.

So wird ein Bauer abgeurteilt, weil er das Abliefungssoll nicht erfüllt hatte. Sechs seiner zehn Kühe stehen trocken und können gar keine Milch geben. Trotzdem bekommt er zwei Jahre Zuchthaus.   

Sternmarsch in Mühlhausen und Panzer in Eckolstädt

In Mühlhausen und den umliegenden Dörfern Körner, Ober- und Niederdorla, Großengottern rumort es seit Wochen. Bauern marschieren in einem Sternmarsch nach Mühlhausen. Peinlich für die Genossen, schmückt sich doch die Stadt mit dem Namen des Bauernkriegsführers Thomas Müntzer.

Die Demonstranten formulieren ihre Forderungen und versuchen, die Arbeiter des Möve-Werkes zum Mitstreiken zu bewegen. Das misslingt. Was sie aber schaffen, ist, inhaftierte Bauern zu befreien. Es dauert nicht lange, da treten die Sowjets auf den Plan. Im Polizeibericht ist zu lesen:

Da die Bauern in der Gastwirtschaft am Untermarkt waren, konnte mit Unterstützung der Genossen der Sowjetarmee innerhalb einer Minute die Gaststätte geräumt werden.

Einsatzbericht aus Mühlhausen an die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Erfurt Quelle: Landesarchiv Thüringen - Hauptstaatsarchiv Weimar, Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Erfurt

Im beschaulichen Dorf Eckolstädt bei Apolda versammeln sich Bauern schon am 13. Juni 1953. In einer Resolution stellen sie Forderungen auf, die sie auch dem DDR-Landwirtschaftsministerium übergeben. Die Staatssicherheit hat eine Mitschrift in ihren Unterlagen:

Diejenigen Personen, die die Fehler der SED und der Regierung örtlich propagiert, mitgemacht und gefördert, also die katastrophale Lage in unserem Dorf mitverschuldet….haben, haben sofort aus allen öffentlichen Ämtern und Posten auszuscheiden.

Mitschrift der Staatssicherheit über Forderungen der Bauern Quelle: Mediathek des Stasi-Unterlagen-Archivs

Die Lage erscheint den Genossen so brisant, dass sie Panzer anfordern. Nur wenige Stunden später klicken für den langjährigen Gemeindepfarrer Edgar Mitzenheim die Handschellen. Ihm wird in Erfurt als "Rädelsführer" der Prozess gemacht. Mitzenheim ist kein x-beliebiger Pfarrer, sondern der Bruder des evangelischen Bischofs in Thüringen, Moritz Mitzenheim.

So bekommt der Prozess eine besondere Bedeutung. Dem Pfarrer soll eine Nazi-Vergangenheit angehängt werden. Ein entsprechendes Fernschreiben vom Juni 1953 gibt dazu Anweisungen und ist in den Polizeiakten zu finden:

Insbesondere muss darauf Wert gelegt werden, dass bei der Durchführung von Ermittlungsverfahren festgestellt wird, dass o.g. Tätergruppen in Westberlin militärisch ausgebildet wurden.

Blitz-Fernschreiben an Bezirksbehörde der Volkspolizei Erfurt Landesarchiv Thüringen - Hauptstaatsarchiv Weimar, Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Erfurt

Das Urteil fällt entsprechend hart aus: Sechs Jahre Zuchthaus für den 57-jährigen Edgar Mitzenheim, drei Jahre davon muss er absitzen.

Was vom 17. Juni 1953 in Thüringen bleibt

Schon am 18. Juni 1953 hat die SED-Führung, auch dank der sowjetischen Hilfe, wieder Oberwasser und macht sich an die Interpretation der Ereignisse. Es ist ein "faschistischer Putschversuch". Doch die Genossen hätten auch eine Lektion gelernt, sagt DDR-Historiker Dr. Stefan Wolle:

Sie hatte erkannt, dass man mit solchen 'Schweinetreiber-Methoden' auf Dauer nicht ein ganzes Land regieren kann.

Dr. Stefan Wolle DDR-Historiker

So kommen in Thüringen inhaftierte Bauern frei und werden Enteignungen rückgängig gemacht. Schon nach dem 10. Juni 1953 können von der Schule verwiesene Schüler zurückkehren. Die Kirche und insbesondere die Mitglieder der Jungen Gemeinden werden nicht mehr so repressiv verfolgt.

Hier lesen Sie mehr zum Thema DDR-Volksaufstand:

  • Sturm auf die Kreisleitung - Der 17. Juni 1953 in Jena
  • Sömmerdaer Heimatheft Nr. 1 (zum Herunterladen)
  • Veröffentlichtung der Landeszentrale zum 17. Juni 1953 in Thüringen (zum Bestellen)
  • Der Volksaufstand vom Juni 1953 in der DDR (Buch zum Bestellen)
  • Resolution der Eckolstädter Einwohnerversammlung | Mediathek des Stasi-Unterlagen-Archivs (stasi-mediathek.de)

MDR (rom)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Kulturnacht | 17. Juni 2023 | 22:10 Uhr

46 Kommentare

Peter am 18.06.2023

Ich sehe in der Aussage des Ex-Bundespräsidenten Gauck keineswegs Floskeln, sondern wichtige Wahrheiten. Und Die, liebe Ilse, welche abwertend von Floskeln sprechen, haben wohl inhaltlich eine ganz andere Meinung zu Freiheit, Demokratie und Recht.

Ilse am 18.06.2023

Der Beobachter

Der damals 13 Jährige, äußerte sich, mit Floskeln im konkreten Fall.
"In Chemnitz hielt Altbundespräsident Joachim Gauck eine Festrede. Er mahnte: "Es gilt, auch heute überall auf der Welt denen beizustehen, die sich, obwohl diskriminiert und ausgegrenzt, mutig für Freiheit, Demokratie und Recht einsetzen."

THOMAS H am 18.06.2023

astrodon: Ich habe nicht geschrieben, das der RIAS die Aktionen organisiert hätte, sondern nur dargelegt, was Egon Bahr in seinem Buch geschrieben hat. Die Bewertung dazu liegt bei jedem selbst.

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