Nationalsozialismus Ermordet und verschwiegen: Jenaer Forschungsprojekt erinnert an Opfer der NS-"Euthanasie" in Thüringen

27. November 2024, 06:52 Uhr

Kurt Apel wurde 1911 in Weimar geboren und landete 1937 auf dem Radar der Nazis, weil er Telefonisolatoren am Stadtrand zerschossen hatte. Wegen psychischer Probleme wird er in die Nervenklinik Jena überwiesen. Die Nazis ordnen die Zwangssterilisation an. So jemand wie Kurt Apel sollte sich laut ihnen nicht fortpflanzen. Der Weimarer ist ein Opfer der NS-"Euthanasie". Eines von vielen.

Wochenlang hat Steffi von dem Fange im Hauptstaatsarchiv Weimar Akten gewälzt, sortiert und gelesen. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin hat für das Forschungsprojekt "Beredtes Schweigen" der Universität Jena zahlreiche Unterlagen gelesen und Biografien aufgearbeitet.

Es sind Akten von Menschen aus Thüringen, die während der NS-Zeit ermordet und ausgelöscht wurden. Sie wurden zwangssterilisiert, mit Medikamenten ruhiggestellt, an Betten gefesselt oder in den Tötungsanstalten in Deutschland umgebracht. Sie passten nicht ins damalige Bild des "gesunden und leistungsfähigen Deutschen".

Exakt die Story - Die Opfer der NS-Euthanasie 30 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Im Zuge der "Euthanasie"-Bestreben der Nazis wurden sie ihrer Fortpflanzungsfähigkeit beraubt oder ermordet. Auch Kurt Apel starb. Nachdem er jahrelang in der Heilanstalt Blankenhain mit Medikamenten ruhiggestellt wurde, kam er schließlich im Rahmen der "Aktion T4" in der Tötungsanstalt im sächsischen Pirna Sonnenstein ums Leben. Ermordet von den Nazis.

"Euthanasie": Nazis töten Menschen, die Staat viel kosten

Deutschland in den 1930er-Jahren: Die Nazis beginnen damit, Menschen zu sortieren. Wer kostet zu viel? Wer darf leben? Wer muss ausgelöscht werden? "Der Nationalsozialismus ist eine jugendlich sportliche Leistungsgesellschaft. Und da kam es auf Leistung, Gesundheit und Jugendlichkeit an und auch auf ein fittes und präsentes Leben.

Das waren eindeutige Ziele dieses Staates. Da störte das Kranke, das Elende, das Alkoholische, die Syphilitiker", erläutert Historiker Götz Aly. Ab 1939 ermordeten die Nazis Kinder, Frauen und Männer - Menschen, die sie als "lebensunwert" ansahen.

"Euthanasie" wurde zum gewollten und beschleunigten Sterben, zur sogenannten Lebensunterbrechung. Ein Begriff, den die Nazis selbst verwendet haben. Aus der "Euthanasie" machten sie ein Programm.

Was ist die "Aktion T4"? Die Nazis verfolgten mit dem "Euthanasieprogramm" die Absicht, Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen zu töten. So sollte die "arische Rasse" von denjenigen "gesäubert" werden, die gemäß der NS-Ideologie als genetisch defekt und finanzielle Belastung des Staates galten.

Im Rahmen der "Aktion T4" wurden Kinder, Frauen und Männer systematisch in den sechs Tötungsanstalten in Deutschland und Österreich vergast und ermordet. Adolf Hitler unterschrieb im September 1939 eine Geheimvollmacht, die die teilnehmenden Ärzte, das medizinische Personal und die Verwaltung vor einer Strafverfolgung schützte.

Im Zuge der "Aktion T4", die in einem Gebäude in der Berliner Tiergartenstraße 4 organisiert wurde, sind mehr als 70.000 Menschen ermordet worden. Die Zahl der Opfer der Euthanasiemorde erhöhte sich bis 1945 durch weitere "Aktionen" auf mehr als 300.000 Menschen.

Täterorte geraten oft in Vergessenheit

Mehr als 400.000 Frauen, Männer und Jugendliche wurden im NS-Staat zwischen 1933 und 1945 zwangssterilisiert. Allein 16.000 waren es im damaligen Gebiet Thüringens. Sie waren gehörlos, stumm, geistig und körperlich beeinträchtigt oder hatten andere "Makel", die das NS-Regime unter Adolf Hitler auslöschen wollte. Doch an vielen Täterorten erinnert heute kaum noch etwas an die Verbrechen von einst.

Ein grünes Gebäude von außen - Das ehemalige Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar.
Wo heute die Weimarer ACC-Galerie beheimatet ist, befand sich früher das Gesundheitsamt, von dem aus auch zahlreiche Zwangssterilisationen angeordnet wurden. Bildrechte: MDR/Robert Löwig

Viele wissen nicht, dass etwa das Haus neben der heutigen ACC-Galerie in Weimar einmal das Gesundheitsamt der Stadt war. Der damalige Amtsarzt Dr. Waldemar Freienstein setzte die NS-Ideale um und beantragte zahlreiche Zwangssterilisationen. Das einstige Landesamt für Rassewesen in der Marienstraße 13 in Weimar ist heute ein Teil der Bauhaus-Universität.

Ein weißes Gebäude von außen - Das einstige Landesamt für Rassekunde in Weimar.
Auch das frühere Landesamt für Rassekunde in Weimar ist heute wieder in Verwendung - als Gebäude der Bauhaus-Uni. Bildrechte: MDR/Robert Löwig

Theaterstück, Graphic Novel und Unterrichtsmaterialien für mehr Bildung zu "Euthanasie"

Über zwei Jahre lang haben Mitwirkende des Projekts "Beredtes Schweigen" geforscht, um vor allem diese Täterorte von damals wieder sichtbar zu machen. "Man merkt bis in die heutige Zeit, dass man sich mit diesem Thema schwertut. Es taucht im Bildungskontext und auch an den Orten der Erinnerungskultur kaum bis gar nicht auf", weiß Projektleiter Karl Porges. In Thüringen seien noch immer viele NS-Täterorte kaum als solche bekannt, auch ihre damalige Vernetzung in den Sterilisations- und Mordprogrammen kennen nur wenige.

Die Betroffenen der Eugenik-Verbrechen sind bis heute nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt.

Steffi von dem Fange Wissenschaftliche Mitarbeiterin

Steffi von dem Fange, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, im Hauptstaatsarchiv Weimar
Steffi von dem Fange arbeitet an dem Forschungsprojekt der Uni Jena mit und fordert, dass Eugenik-Betroffene als Opfer des Nationalsozialismus ankernannt werden. Bildrechte: MDR/Andreas Höfer

Auch an die Opfer der NS-"Euthanasie" will das Projekt, das mit 400.000 Euro von der Stiftung EVZ und dem Bundesministerium für Finanzen gefördert wurde, erinnern. Wissenschaftlich und künstlerisch wurden innerhalb von zwei Jahren verschiedene Ideen umgesetzt.

So ist in Zusammenarbeit mit dem "Stellwerk - Junges Theater Weimar" das Theaterstück "Ausradiert" entstanden. Dazu wurden eine Graphic Novel und zahlreiche neue Unterrichtsmaterialien für Gymnasien, Regel- und auch Berufsfachschulen entwickelt.

Wenn wir uns die Lehrpläne in Thüringen anschauen, spielt das Thema NS-Eugenik eigentlich gar keine Rolle.

Karl Porges Projektleiter

Karl Porges, Projektleiter "Beredtes Schweigen"
Karl Porges leitet das Projekt "Beredtes Schweigen", das die Eugenik-Verbrechen thematisiert. Bildrechte: MDR/ Marco Seidel

Frühzeitiges Ampel-Aus verhindert Bundestagspläne zur Anerkennung der Eugenik-Opfer

"Wenn wir uns die Lehrpläne in Thüringen anschauen, spielt das Thema NS-Eugenik eigentlich gar keine Rolle", sagt Karl Porges. Das habe eine Analyse der Forschungsgruppe ergeben. Auf verschiedenen Social-Media-Kanälen machen deshalb junge Menschen mit selbstgedrehten Clips auf das Thema aufmerksam.

Aber auch das Leid und die Gegenwehr zahlreicher Betroffener wurden in Erinnerung gebracht, denn viele Opfer wurden nicht nur von den Nazis gedemütigt und ermordet, sondern auch von den Familien verschwiegen und von der Gesellschaft vergessen.

Arbeitsblätter liegen auf einem Tisch, dahinter Schülerinnen.
Das Forschungsprojekt will mehr Bewusstsein über die "Euthanasie"-Verbrechen schaffen. Bildrechte: MDR/Juliane Maier-Lorenz

"Die Betroffenen der Eugenik-Verbrechen sind bis heute nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Das ist eine Folge dieses Schweigens und dieses fortwährenden eugenischen Denkens. Und darüber muss gesprochen werden", sagt Steffi von dem Fange. Ein Antrag zur Anerkennung der Opfer der NS-"Euthanasie" und Zwangssterilisationen wurde jetzt nach dem Aus der Ampel-Koalition von der Tagesordnung des Bundestages genommen.

Mehr zu diesem Thema im Film "Ermordet. Verschwiegen. Vergessen - Die Opfer der NS-Euthanasie" am Mittwochabend, 20:45 Uhr, im MDR Fernsehen.

MDR (ost)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Exakt - Die Story | 27. November 2024 | 20:45 Uhr

33 Kommentare

Eddi58 vor 16 Wochen

@Karl Kaiser
„…Ich verhöhne kein Opfer da ich am eigenen Leibe SED-Unrecht erlebt habe.
Wer waren die Menschen die nach 1945 in der SED und beim MfS mitmachten?…“

Da Sie hier kommentieren, sind Sie offenbar mit dem Leben davon gekommen…Meine Großmutter und Millionen andere haben das Ende der Nazidiktatur nicht mehr erlebt.
Worin bestand im konkreten Fall das Unrecht?

Harka2 vor 16 Wochen

Und wie sie die Opfer verhöhnen! Sie unterscheiden nicht zwischen dem Massenmord Nationalsozialisten und SED-Unrecht? Damit sprechen sie sich selber jede Qualifikation für das Thema ab. Ihre Opferrolle nimmt ihnen niemand mehr ab.

Eddi58 vor 16 Wochen

@Karl Kaiser

Hallo Herr Kaiser. Ja, man kann alles vergleichen, Äpfel mit Birnen und Elefanten mit Mücken.
Schwierig wird es, wenn grundverschiedene Dinge gleichgesetzt werden, wie Sie es gerade tun. Die singulären Verbrechen der Nazis mit dem Unrecht in der DDR in eins zu setzen ist eine Verhöhnung der Opfer, widerlich, erbärmlich und unmoralisch.🤢

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