WestbalkanSerbien steht auf: Vom Studentenprotest zum Volksaufstand
Am 1. November 2024 stürzte das Vordach des Bahnhofs in Novi Sad ein und tötete 16 Menschen. Seitdem kommt Serbien nicht mehr zur Ruhe. Was in Westeuropa aber oft übersehen wird: Inzwischen haben sich die von Studenten initiierten Proteste gegen "Korruption, die tötet" zu einer Art Volksaufstand entwickelt, der das gesamte Land und alle Bevölkerungsschichten erfasst hat. Die Machthaber können sich kaum mehr blicken lassen, ohne ausgepfiffen und mit Eiern beworfen zu werden.
Inhalt des Artikels:
Der Volksaufstand
Längst sind Studenten, die den Stein ins Rollen gebracht haben, nur noch eine von vielen Gruppen, die in Serbien auf die Straße gehen oder die Arbeit niederlegen. Mittlerweile werden Proteste gegen das Regime täglich in über 400 Ortschaften organisiert, teilte das Archiv der öffentlichen Veranstaltungen mit.
Mittlerweile streiken Lehrer an Mittel- und Grundschulen, Universitätsprofessoren, Theater-Mitarbeiter, Anwälte, medizinisches Personal... Der bis vor Kurzem allmächtig wirkende Staatspräsident Aleksandar Vučíc stößt auf Schritt und Tritt auf Ungehorsam. Ein Juristenstreik legte für einen ganzen Monat die Justiz lahm. Wütend drohte Vučíc, Richter und Staatsanwälte zu ersetzen, die "ihre Arbeit nicht ordentlich" täten. Doch die Menschen in Serbien lassen sich nicht mehr einschüchtern. Über 300 Justizmitarbeiter unterzeichneten eine Erklärung, in der sie den Präsidenten aufrufen, sich an die Verfassung zu halten und sich für diese Aussage zu entschuldigen.
Besonders aggressiv rechnete das Regime mit Lehrern ab, die seit Monaten streiken. Der Grund: Wenn Schulen geschlossen sind, sind Schüler auf der Straße und schließen sich Studenten an. Und Eltern sehen, daß nichts im Staat in Ordnung ist, wie gleichgeschaltete Medien sie glauben machen wollen. Die Regierung wollte nicht hinnehmen, dass Menschen, die der mit Vučíc gleichgesetzte Staat anstellt, den Gehorsam verweigern.
Nachdem die Lehrergewerkschaften die Streikenden verraten hatten und faule Kompromisse mit dem Bildungsministerium eingegangen waren, setzten viele Lehrer ihren Streik fort. In der Stadt Čačak zum Beispiel waren alle Mittelschulen, in Belgrad etwa 70 Prozent davon geschlossen. Als Strafmaßnahme strichen oder kürzten die Behörden die Februargehälter von etwa 20.000 Lehrern drastisch, um sie zu zwingen, die Arbeit wieder aufzunehmen.
Der Geist des Widerstands, den die Studenten aus der Flasche befreit haben, hat die ganze serbische Gesellschaft gepackt. "Der Studentenprotest verwandelte sich in den vergangen fünf Monaten in einen Volksprotest. Die Studenten spielten dabei die Rolle einer Zündkapsel", sagt der bekannte Schriftsteller Dragan Velikić.
Der Auslöser
Dabei schienen die Proteste in der Hauptstadt der serbischen Provinz Vojvodina nach Einsturz eines Bahnhofsvordachs mit 16 Todesopfern zunächst in die gleiche Richtung zu gehen, wie alle vorherigen Proteste gegen die autokratische serbische Regierung: Empörte Bürger beschuldigen die Machthaber der Korruption, die diesmal Menschenleben kostet, gehen auf die Straße, blockieren den Verkehr, machen viel Lärm. Manchmal sind es Tausende, manchmal Zehntausende, alles dauert einige Wochen oder mehrere Monate, die Demonstranten sind friedlich, die Polizei hält sich betont zurück, und alles verläuft am Ende im Sande, als ob nichts passiert wäre.
Trotz aller Beschuldigungen, Wahlen zu fälschen, Justiz, Polizei, Armee und Geheimdienste zu kontrollieren, staatliche Ressourcen für seinen Machterhalt zu missbrauchen, sich einen Dreck um die Verfassung zu scheren und die Medien gleichgeschaltet zu haben, schien Serbiens Staatspräsident Aleksandar Vučić, sich auch nach 13 Jahren felsenfest im Sattel des für ihn maßgeschneiderten Systems zu halten.
Kritische Stimmen aus dem Ausland, etwa der amerikanischen Nichtregierungsorganisation Freedom House, die liberale Demokratie weltweit fördert und Serbien als "hybride Demokratie" bezeichnete, die Feststellung der NGO Reporter ohne Grenzen, dass Medienfreiheiten in Serbien in einem alarmierenden Ausmaß schrumpften, oder auch warnende Berichte des Europaparlaments, wonach bürgerliche Freiheiten und Wahlbedingungen in Serbien viel zu wünschen übrigließen, waren Vučić gleichgültig.
Die Studenten
Doch dann änderte sich alles in einem atemberaubenden Tempo. Auf die Szene des eingeschläferten serbischen Widerstands gegen den serbischen Autokraten, der sich aufführt, als ob er ein gottgleicher, allmächtiger Weltherrscher wäre, traten Studenten. Sie blockierten die Fakultäten an allen staatlichen Universitäten und Hochschulen und formulierten einige Forderungen an die Regierung, die ein Wort vereint: Rechtsstaatlichkeit.
Die seit Jahrzehnten völlig unpolitisch wirkende serbische Jugend tauchte aus heiterem Himmel in der politischen Landschaft auf – wacker, entschlossen, energisch, lächelnd, klug und ansteckend, kurzum: absolut mitreißend. Die Studenten fordern nicht mehr und nicht weniger, als dass alle vor dem Gesetz gleich sind.
Sie machten klar, keinen Machtwechsel, sondern eine Systemänderung zu wollen. Sie marschierten zu Fuß durch das ganze Land, zogen hunderte Kilometer fröhlich und unermüdlich durch Dörfer und Provinzstädte, wurden überall wie die Befreier mit Braten und Kuchen empfangen und lösten bei den lange Zeit apathischen und hoffnungslosen Bürgern heftige Emotionen aus: Man umarmte sie, küsste sie und weinte. Es schien auf einmal, als ob ganz Serbien gerührt schluchzen würde. "Es sind Freudentränen", "Danke, Kinder!", "Ihr bringt uns Hoffnung", "Ich kann gar nicht aufhören, zu weinen", "Ihr seid unsere Zukunft", konnte man hören, wo immer die Studenten marschierten.
Ende Dezember riefen sie zu einer Demo im Zentrum Belgrads auf: Rund 100.000 Menschen kamen. Dann organisierten sie große Proteste in Novi Sad, Niš und Kragujevac, die alle am 15. März in der größten Kundgebung in der Geschichte Serbiens in Belgrad kulminierten – über 300.000 Menschen zählte die Organisation Archiv der öffentlichen Veranstaltungen. Das Innenministerium gab die Zahl mit 107.000 an.
Die Schallkanone
Obwohl regimetreue Medien vor dem gewaltigen Massenprotest am 15. März Angst schürten, vom "D-Day" berichteten, an dem inländische Verräter, von fremden Machtzentren und Geheimdiensten wie dem Bundesnachrichtendienst (BND) geleitet, versuchen würden, mit Gewalt die Macht zu übernehmen, verlief die Kundgebung im Großen und Ganzen friedlich, wie alle vorherigen, die Studenten organisiert hatten.
Als jedoch in der Belgrader Kralja-Milana-Straße Tausende Demonstranten standen, um still der Opfer aus Novi Sad zu gedenken, gerieten sie plötzlich ohne jeglichen sichtbaren Grund um 19:11 Uhr in blanke Panik und flüchteten auf die Bürgersteige. Es sah auf Videos aus, als ob eine unsichtbare Macht sich einen Weg durch die Masse bahnte.
Am Tag danach berichteten kritische Medien, das Regime habe gegen friedlich demonstrierende Bürger eine in Serbien verbotene Schallkanone eingesetzt. Bald bestätigten serbische und internationale Soundexperten nach Analyse der mit Smartphones gemachten Aufnahmen, dass tatsächlich so eine Waffe im Einsatz gewesen war.
Serbiens Innenminister Ivica Dačić schwor zunächst, dass Serbien keine Schallwaffe besitze. Als Dokumente auftauchten, die den Import einiger solcher Systeme belegten, gab er zu, dass es zwar welche gibt, aber dass sie eingepackt in Kisten aufbewahrt würden. Als ein Foto an die Öffentlichkeit geriet, das so eine Schallkanone einsatzbereit auf einem Polizeijeep während der Demo am 15. März neben dem Landesparlament zeigte, versuchte der Innenminister das kleinzureden: "Das ist doch nichts anderes, als ein etwas stärkerer Lautsprecher, den wir als Warnsystem benutzen."
Der Einsatz der Schallkanone gegen friedliche Demonstranten löste bei vielen Bürgern nackte Wut aus. So ganz friedlich sind die Proteste seitdem nicht mehr.
Die Bürger
Der Studentenprotest beruht auf einer Art direkter Demokratie ohne Anführer. Alle Entscheidungen werden mehrheitlich bei Versammlungen getroffen, wo alle Studenten gleichberechtigt Sprach- und Stimmrecht haben. Da serbische Institutionen "besetzt" seien, rieten die Studenten allen unzufriedenen Menschen in Serbien, sich nach ihrem Vorbild außerhalb der Institutionen in "Bürgerversammlungen" zu organisieren. Und die Bürger folgten ihrem Rat. Wenn Gemeindeparlamente versuchen, eine Sitzung abzuhalten, stehen nun vielerorts Bürgerversammlungen davor, machen gewaltigen Lärm oder versuchen einzudringen.
In Bogatić, Niš und Obrenovac wurden Mitglieder der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) mit Eiern beworfen. Wo immer man hinschaut in den letzten Tagen, müssen Sondereinheiten der Polizei Funktionäre der Regierungspartei SNS vor wütenden Bürgern beschützen. Die Opposition ist bei dem Volksaufstand völlig marginalisiert.
Mittlerweile wird jedoch auch Kritik am Vorgehen der Studenten laut: Sie würden eine "Antipolitik" praktizieren, Kontakt mit Oppositionsparteien meiden, ihre Bewegung habe nicht einmal einen Namen, sie würden aus einer "olympischen Höhe" herab, über den Dingen stehend, ihre Entscheidungen verkünden. Doch die meisten Menschen stört das ofenbar nur wenig, die Bürger folgen massenhaft der "aufgestandenen Jugend des Landes".
"Ich demonstriere, weil ich absolut die Forderungen der Studenten unterstütze. Nach dreizehn Jahren haben sie es geschafft, die tote Bevölkerung aufzurütteln", sagte beispielsweise der 60 Jahre alte Bauunternehmer Aleksandar Kezić. Seit über zehn Jahren seien die Bürger Serbiens in einer "Medienfinsternis" lauter Lügen ausgesetzt und würden beobachten, wie sich den Machthabern nahestehende Strukturen bereichern. Die Jugend habe es geschafft, all das zu artikulieren, woran die Opposition gescheitert sei, sagt Kezić.
Niemand könne mit Gewissheit sagen, was nun kommen werde, aber die "Gesetze der Physik" seien unerbittlich, sagt der Schriftsteller Dragan Velikić: "Die dreizehnjährige Herrschaft von Aleksandar Vučić neigt sich ihrem Ende zu. Die Frage ist nur, ob die EU bereit sei, ein Serbien ohne Vučić zu akzeptieren."
Damit zielt Velikić auf die Tatsache ab, dass die EU schon ein ganzes Jahrzehnt lang den Übergang Serbiens hin zu einer Autokratie stillschweigend duldet und Vučić unter die Arme greift, weil ihr die Stabilität auf dem Balkan wichtiger als die Demokratie ist. Die Serben selbst seien aber bereit für eine Wende.
MDR (baz)
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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | Heute im Osten – Neues aus Osteuropa | 29. März 2025 | 07:17 Uhr