
Ukraine-Krieg Auf dem Balkan werden alte Ängste wach
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16. März 2022, 14:28 Uhr
Die Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren waren ein Trauma für Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina. Die Menschen dort reagieren deshalb besonders feinfühlig, wenn in Europa wieder ein großer Krieg geführt wird. Alte Ängste werden wach, Erinnerungen an Belagerung und Völkermord kommen wieder hoch. Aus diesem Grund ist die Solidarität mit der Ukraine dort besonders groß. Ein Bericht von Gordan Duhaček aus Zagreb.
Meine in Sarajewo lebende Schwester Mirna rief mich vor wenigen Tagen an, nachdem sie in der Stadt eine große Anzahl von EUFOR-Soldaten in Tarnuniformen gesehen hatte. "Es ist schrecklich, all diese Soldaten zu sehen. Was denkst du, wird es wieder Krieg geben?", fragte sie mich, als sie im Nachmittagsstau von Sarajevo steckte. Das ist heutzutage die häufigste Frage in der Region.
So wie meine Schwester, machen sich viele Menschen auf dem Balkan derzeit Gedanken, wie sie einem Krieg entkommen könnten. Meine Schwester hat einen kroatischen Pass und könnte Bosnien und Herzegowina problemlos verlassen. "Aber was ist mit Eldin?", fragte sie mit Blick auf ihren langjährigen Partner, mit dem sie aber nicht verheiratet ist und der keine EU-Staatsbürgerschaft besitzt. Sie erwähnte auch eine Freundin aus der nordbosnischen Stadt Tuzla, die bereits einen Koffer gepackt habe, um aus der Wohnung so schnell wie möglich fliehen zu können.
Ich habe versucht, meine Schwester zu beruhigen und sie davon zu überzeugen, dass es in Bosnien und Herzegowina keinen Krieg geben wird – obwohl ich selbst nicht hundertprozentig davon überzeugt bin, dass es völlig ausgeschlossen ist.
Militärpatrouillen in Bosnien und Herzegowina
Die verstärkte Präsenz der EUFOR-Kräfte auf der Straße und die Überflüge französischer Kampfjets sollen das Gefühl vermitteln, dass die Menschen in Bosnien und Herzegowina keinen Grund zur Sorge haben – doch nach den Reaktionen in den sozialen Netzwerken zu urteilen, wurde damit die gegenteilige Wirkung erzielt.
Der Krieg in der Ukraine hat aber nicht nur in Bosnien und Herzegowina, sondern auch in Kroatien schmerzhafte Erinnerungen an die Jugoslawienkriege in den 1990ern wachgerufen. "Es ist, als wäre ich ins Jahr 1991 zurückgekehrt", sagte Neven Fitnić, ein 44-jähriger Geschäftsmann aus Zagreb, der den Krieg in der Ukraine von Anfang an obsessiv verfolgt.
Erinnerungen an Belagerung und Völkermord
Bilder vom zerbombten Kiew und von langen Flüchtlingskolonnen erinnern ihn und viele andere Kroaten an die Belagerung von Vukovar im Jahr 1991. "Seit Tagen fühle ich mich unwohl. Ich frage mich, ob es einen Atomschlag geben wird", sagte Fitnić, der während des Kroatienkrieges ein Kind war. Er hält den russischen Präsidenten Wladimir Putin für gefährlich und unterstützt die kroatische Hilfe für die Ukraine.
Nach zwei Jahren Pandemie liegen die ohnehin schon strapazierten Nerven der Menschen auf dem Balkan blank. Sowohl in Kroatien als auch in Bosnien und Herzegowina gab es in den Supermärkten Hamsterkäufe. Vor allem Mehl, Öl und Konserven landeten dabei in den Einkaufswagen. "Nur für den Fall der Fälle", lautet die übliche Erklärung. Manche fügen hinzu: "Die Lebensmittelpreise steigen sowieso. Es ist besser, jetzt einzukaufen, solange es billiger ist."
Ukraine: Parallelen zu den Jugoslawienkriegen
Viele Menschen haben außerdem ein Problem mit der These vom "ersten Krieg in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges", die in den westlichen Medien die Runde macht. Die Menschen in Kroatien und Bosnien und Herzegowina verweisen mit Empörung darauf, dass es hier vor drei Jahrzehnten einen Krieg gab. Und sie sind über den Westen erbittert – denn viele glauben, dass Europa und die USA Anfang der 1990er-Jahre sofort militärisch hätten eingreifen müssen, um den damaligen serbischen Anführer Slobodan Milošević zu stoppen. Sie blicken mit einem gewissen Neid auf die enorme Hilfe, die die Ukraine jetzt bekommt.
Viele vergleichen den Krieg in der Ukraine mit dem "Heimatkrieg", wie der Krieg der 1990er-Jahre hier genannt wird. Die Ukrainer nehmen in dieser Optik dieselbe Rolle ein wie damals die Kroaten, und den russischen Aggressor identifiziert man mit den damaligen Serben und der jugoslawischen Armee.
Große Solidarität mit der Ukraine
Wegen der eigenen Kriegserfahrung ist die Solidarität mit der Ukraine in Kroatien besonders groß. Zwar hat das Land bislang nur einige Tausend ukrainische Flüchtlinge aufgenommen, man empfängt sie aber mit offenen Armen. Für Kinder aus der Ukraine, die in Zagreb ankamen, wurde beispielsweise ein Besuch im Zoo organisiert, wo ein Mittagessen und Geschenkpäckchen auf die Kleinen warteten. So wollten die Helfer die Gedanken von Kinder von der Tragödie ablenken, die ihnen in der Heimat widerfahren ist.
In den sozialen Medien organisieren die Bürger Kroatiens Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge. Die beliebteste dieser Facebook-Gruppen ist SOS Ukraine – dort haben sich bereits fast 20.000 Menschen versammelt. "Wir haben Leute, die Wasser, Lebensmittel und andere notwendigen Dinge liefern, wir kümmern uns um absolut alles. Seit der Gründung der Gruppe hat sich keiner der sieben Admins um etwas anderes gekümmert", sagte eine Initiatorin der Gruppe, die anonym bleiben wollte, dem Nachrichtenportal Index.
Die Angst bleibt – auch im EU-Land Kroatien
Dass man sich in der Ukraine-Hilfe engagiert, ist vielleicht auch eine Art, mit der eigenen Angst fertig zu werden. Den Beteuerungen des kroatischen Präsidenten Zoran Milanović, es werde sicher keine bewaffneten Konflikte in der Region geben, glauben die meisten Menschen jedenfalls nicht. Mit seiner Pro-Putin-Rhetorik spaltete Milanović schon lange vor dem Ukraine-Krieg die kroatische Gesellschaft. Und erst recht will man ihm im benachbarten Bosnien und Herzegowina nicht glauben, wo er für Empörung sorgte, als er den Völkermord von Srebrenica relativierte.
Das ist nämlich ein weiterer Grund für die Nervosität der Menschen auf dem Westbalkan: Politiker, die das Feuer mit rhetorischem Benzin löschen. "Politiker sagten 1991 in Kroatien, dass es keinen Krieg geben würde. Dann sagten 1992 Politiker in Bosnien, dass es keinen Krieg geben würde. Und wir wissen, was passiert ist", beendete meine Schwester unser Telefonat.
Unser Autor Gordan Duhaček ist politischer Journalist und Kolumnist bei Index.hr, einem der bekanntesten unabhängigen Nachrichtenportale auf den Westbalkan. Gordan Duhaček wurde in Sarajevo geboren, hat in Wien Publizistik studiert und lebt seit Jahren in Zagreb. Bevor er zu Index.hr wechselte, arbeitete er u.a. für den kroatischen Kultsender Radio 101 und das Nachrichtenportal Tportal.hr.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 12. März 2022 | 07:30 Uhr