Rabbinerin Esther Jonas-Märtin 5 min
Rabbinerin Esther Jonas-Märtin Bildrechte: MDR/ Michaela Weber

Schabbat Schalom | 21.02.2025 Rabbinerin Esther Jonas-Märtin: Von Recht und Gerechtigkeit

20. Februar 2025, 15:03 Uhr

Nur wenn Recht und Gerechtigkeit zusammen wirken, finden Menschen zu echter Freiheit, meint die Leipziger Rabbinerin Esther Jonas-Märtin in ihrer Auslegung des Wochenabschnitts "Mischpatim".

Die Lesung in dieser Woche hat den Namen Mischpatim, d.h. Gesetze und Regeln. Das hebräische Wort Mischpatim trägt auch die Bedeutung von Richten und Rechtsprechen in sich. Unser Text beinhaltet Zivilrecht, Religionsgesetz, Haftungsrecht, Finanzrecht, Familienrecht und Strafrecht, wobei es in der Auflistung keine Unterscheidung der verschiedenen Rechtsprechungen gibt.

Das Volk erkennt die Gesetze an

Am Ende der Lesung werden die Feiertage noch einmal in den Blick genommen und G'tt wiederholt das Versprechen, das Volk Israel in das Land Kanaan zu bringen. Moses bringt Gott ein Opfer für die gesamte Führungselite, und sie haben eine wunderbare Vision. Dann geht Moses erneut auf den Berg Sinai, um das Gesetz zu erhalten. Dieses Mal erkennt das Volk das Gesetz an, und die Tafeln werden nicht zerstört.

Die Tora stellt keine Kategorien innerhalb des Gesetzes auf. Da ist es umso bemerkenswerter, dass die Tora einen Ort schafft für Menschen, die ungewollt und ohne Absicht, jemanden verletzen, töten oder etwas zerstören.

Es geht darum, dass wohlwollende Menschen eben auch Instrument sein können für Tod und Zerstörung. Das Gesetz der Tora versucht hier den Wunsch nach verfahrensrechtlicher Gerechtigkeit mit inhaltlicher Gerechtigkeit zu verbinden. Diese Gesetze betreffen die Kunst des Kompromisses, die Kunst des Möglichen.

Das Gesetz der Tora (wie auch jeder anderen Gesetzgebung) hängt zwischen zwei Welten. Die eine Welt ist die der perfekten Gerechtigkeit, die andere Welt ist die der menschlichen Realität und der menschlichen Erfahrung.

Haben nicht immer die Kontrolle über unsere Geschicke

In der Praxis müssen wir so handeln, als wären wir selbst verantwortlich für Leben und Tod, wir müssen auf freiem Willen und moralischer Verantwortung bestehen. Gleichzeitig müssen wir der Tatsache Raum geben, dass wir nicht immer die Kontrolle über die Dinge oder Geschehnisse haben.

Moses wird de facto zum Mörder, als er den grausamen Aufseher tötet. Er wird dafür aber nicht so bestraft, wie es das Gesetz verlangt, verbringt jedoch eine gewisse Zeit in der Wildnis.

Auch die Wanderung des Volkes Israel  durch die Wüste könnte so verstanden werden. War doch der Tod der ägyptischen Erstgeborenen Voraussetzung für den Exodus, ebenso wie es Teil der Flucht war, dass die ägyptischen Verfolger in den Fluten des Meeres umkamen.

Das Volk Israel ist nicht verantwortlich dafür, ist aber letztlich die Ursache für den Tod vieler und wird daher mit einer Zeit in der Wildnis belegt. Eine Zeit der Bewährung für das Volk Israel, ebenso wie dies schon eine Zeit der Bewährung für Moses war.

Die Aufgabe für die Zeit in der Wildnis besteht darin, sich selbst in einer unwirtlichen Gegend ein Zuhause zu schaffen, während man immer weiterwandert, während alles ungewiss ist. Ein solches Zuhause zu schaffen, bedeutet sich selbst eine Ordnung zu geben, sich an bestimmte Regeln zu halten.

Heutzutage würde man diese Zeit in der Wildnis als Resozialisierung definieren. Die Aufgabe von Rechtssystemen ist es tatsächlich, Ordnung zu schaffen bzw. Ordnung zu erhalten. Gleichzeitig kann Gerechtigkeit nur dann entstehen, wenn Recht nicht nur auf der Basis von Gesetzen gesprochen wird, sondern auch auf der Basis von Gründen, der Einbeziehung von Ursachen oder der Frage nach der Intention.

Durch die Reise in der Wildnis soll sich der Fokus in die Zukunft richten, vor allem in eine Zukunft, die man selbst anstrebt, als der Mensch oder das Volk, das man sein möchte - und sich so selbst für eine ganz eigene Zukunft zu definieren.

Wenn es heute Menschen gibt, die stärkere Gesetze fordern, dann müssen wir folgendes mit bedenken: Erstens, dass wir bereits Gesetze haben, die aber nicht genügend umgesetzt und eingefordert werden. Das beste Gesetz nützt nichts, wenn die Exekutive, d.h. die Polizei und sonstige Organe die Befolgung von Gesetzen nicht entsprechend nachverfolgen und prüfen.

Und zweitens, dass stärkere Gesetze, damit meinen die Fordernden meist härtere Gesetze, allzu oft schlicht den Ausschluss von menschlichen Maßstäben bedeuten. Es bedeutet die Vernachlässigung von Gründen und Ursachen. Es bedeutet, dass wir anderen nicht das zugestehen, was wir für uns selbst als selbstverständlich betrachten.

Im Klartext bedeutet es: das Messen mit zweierlei Maß. Messen mit zweierlei Maß jedoch führt unweigerlich zu gesellschaftlicher Spaltung und zu einem generellen Gefühl von Unrecht.

Rabbiner Jonathan Sacks bringt es auf den Punkt: "Wahre Freiheit erfordert Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit sowie ein Justizsystem, in dem die Rechte einiger nicht durch die Verweigerung anderer Rechte gesichert werden."

Nur dann, wenn Recht und Gerechtigkeit zusammenwirken, finden wir Menschen zu echter Freiheit.

Schabbat Schalom!

Zur Person: Rabbinerin Esther Jonas-Märtin Esther Jonas-Märtin absolvierte Jüdische Studien, studierte Literaturwissenschaft, Moderne Geschichte und Religionswissenschaften in Leipzig und Potsdam und erwarb 2006 den Master of Arts.

2017 schloss sie ihr Studium zur Rabbinerin mit dem Master of Arts in Rabbinics und der Rabbinischen Ordination in Los Angeles ab.

Sie ist Initiatorin und Gründerin des Lehrhauses Beth Etz Chaim in Leipzig (2018) sowie Referentin und Autorin einer Vielzahl von Artikeln und Beiträgen in den Themenbereichen: moderne jüdische Geschichte, Gender, Jiddische Poesie, Jüdische Ethik und Judentum.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 17. Januar 2025 | 15:45 Uhr