MedizinAntibiotika-Krise: "Wir haben das Kind verloren"
Gegen Antibiotika resistente Bakterien sind eine globale Bedrohung, doch kaum jemand weiß davon. Die Resistenzen verbreiten sich immer mehr, vor allem in Indien, Südostasien oder Süd- und Mittelamerika. Hinzu kommt ein immenser Antibiotikaverbrauch in Europa - in der Tierhaltung und der Humanmedizin. Wenn kein Antibiotikum mehr wirkt, kann eine einfache Infektion zum Tod führen. MDR WISSEN sprach mit Infektiologe Reinhard Berner vom Uniklinikum Dresden, warum der Kampf dagegen so schwer ist.
Professor Berner, die Covid-Pandemie hat die Republik in Aufruhr versetzt. Die stille Pandemie der Antibiotikaresistenzen geschieht abseits der interessierten Öffentlichkeit. Warum?
Die Covid-Pandemie hat in kürzester Zeit ein riesiges Ausmaß angenommen und alle Menschen in ihren unmittelbaren Lebenswirklichkeiten betroffen. Die stille Pandemie hingegen ist ein seit Jahrzehnten brandaktuelles Thema, vollzieht sich aber, wie der Name schon sagt, eher in der Stille. Die Menschen sterben an Infektionen, nicht immer wird ein direkter Zusammenhang zu resistenten Erregern hergestellt. Diese geringere Sichtbarkeit macht sie jedoch nicht weniger gefährlich. Eine Studie aus dem Fachmagazin "Lancet“
Wenn das Problem so lange bekannt ist, warum gibt es keine Lösung?
Ich arbeite seit 35 Jahren in meinem Beruf, seit 35 Jahren begleitet mich das Thema. Das Bewusstsein ist bei uns durchaus größer geworden, doch auch das Problem hat sich weiterentwickelt, die Zusammenhänge sind noch komplizierter geworden. Fakt ist: die Zahl der Infektionskrankheiten durch antibiotikaresistente Bakterien mit Todesfolge steigt kontinuierlich. Deutschland gehört glücklicherweise noch nicht zu den Ländern, bei denen das Problem am dramatischsten ist. Anders sieht es in Weltregionen mit hohen Resistenzraten aus, wie zum Beispiel in Ländern wie der Ukraine, in Russland, aber auch in Südostasien, in afrikanischen Staaten und in Süd- und Mittelamerika. Doch die Probleme kommen auch bei uns an. Erreger kennen keine Grenzen, das hat die Covid-Pandemie gezeigt.
Wie meinen Sie das konkret?
Letztes Jahr haben wir hier am Uniklinikum Dresden ein Kind aus der Ukraine verloren. Es war durch Bombenangriffe verletzt worden und kam mit großflächigen Brandverletzungen zu uns. Das Kind wurde bereits in Kliniken in der Ukraine behandelt, bevor es zu uns kam. Die großflächigen Brandverletzungen hatten sich im Laufe der Behandlung mit Erregern infiziert, die gegen alle Antibiotika resistent waren. Wir konnten es nicht mehr behandeln und haben es verloren.
Die großflächigen Brandverletzungen hatten sich im Laufe der Behandlung mit Erregern infiziert, die gegen alle Antibiotika resistent waren.
Das klingt dramatisch!
Das ist auch dramatisch und es ist kein Einzelfall. Auch ein Kind mit Blutkrebs stellte uns vor große Herausforderungen. Wir hatten sehr große Sorge, dass dieses Kind im Zuge seiner Krebstherapie an kompliziert zu behandelnden Infektionen erkranken würde. Denn auch dieses Kind war mit Bakterien besiedelt, die gegen praktisch alle Antibiotika resistent waren. Wir hatten Glück, es hat überlebt. Deutschland ist zum Glück nicht das hauptsächlich betroffene Land, doch die Krise besteht weltweit und sie erreicht uns immer öfter.
Wie oft sind Kinder betroffen?
Weltweit gesehen gehören Kinder, besonders Neugeborene, zu der am meisten gefährdeten Gruppe. Durch enorme Anstrengungen der WHO ist es aber gelungen, dass sich die Neugeborenen-Sterblichkeit insgesamt und somit auch die durch resistente Erreger glücklicherweise verringert hat. Hier greifen die medizinischen Mühen der vergangenen Jahre. Anders sieht es bei älteren Menschen aus, sie sind anfälliger für Infektionen als jüngere, gleichzeitig steigt der Anteil der Senioren in der Bevölkerung stetig. Somit wird auch ihr Anteil unter denjenigen, die an Infektionen mit multiresistenten Erregern sterben, immer größer.
Weltweit gesehen gehören Kinder, besonders Neugeborene, zu der am meisten gefährdeten Gruppe.
In Deutschland sind resistente Erreger als "Krankenhauskeime“ bekannt. Warum eigentlich? Man kann sich doch überall damit anstecken.
Menschen bringen Risikofaktoren mit. Vielleicht sind sie auch schon mit resistenten Erregern besiedelt, wenn sie in die Klinik kommen. Zudem werden Patienten in Krankenhäusern, weil sie kränker sind, häufiger mit Antibiotika behandelt. In Krankenhäusern kommt auf engem Raum und unter ganz besonderen Bedingungen eine Gruppe von Menschen zusammen, die mit resistenten Erregern infiziert sein können. Und natürlich ist hier das Risiko, sich anzustecken höher als bei einer Wandergruppe in der Sächsischen Schweiz.
Hinzu kommt: Sind Menschen schwerkrank, sterben sie oft im Krankenhaus. Oft werden sie mit einer Infektion ins Krankenhaus eingewiesen oder es kommt als Komplikation eine Infektion dazu. Es heißt dann schnell, der Patient sei an einem Krankenhauskeim gestorben. Eigentlich ist er aber an seiner Grundkrankheit und vielleicht an einer Infektion mit dem Keim gestorben, den er von zuhause mit ins Krankenhaus gebracht hat. Die Krankenhaushygiene achtet sehr akribisch darauf, Infektionen zu vermeiden und Infektionsketten zu unterbrechen. Das gelingt leider nicht immer, doch es wäre viel zu kurz gegriffen zu sagen, multiresistente Erreger seien vor allem ein Problem, das in den Kliniken vor allem auf Intensiv- und Transplantationsstationen entstünde.
Warum?
Das Problem der resistenten Keime und der Resistenzentwicklung beginnt sehr viel früher. Man muss wissen: etwa zwei Drittel aller Antibiotika in Deutschland werden in der Tierhaltung eingesetzt. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die zeigen, wie häufig Fleisch und Fleischprodukte mit resistenten Erregern besiedelt sind. Und man muss wissen: von dem verbleibenden Drittel an verordneten Antibiotika sind es etwa 85 Prozent, die in der ambulanten Medizin, also nicht in den Kliniken verschrieben werden. Insofern wäre es nicht die ganze Wahrheit zu sagen, alles würde in den Krankenhäusern passieren.
Etwa zwei Drittel aller Antibiotika in Deutschland werden in der Tierhaltung eingesetzt.
Resistente Keime im Fleisch: Thüringer lieben Gehacktes oder Hackepeter – ist es dann gefährlich davon zu essen?
Rohes Fleisch zu essen, ist grundsätzlich risikobehaftet, es kann – unabhängig von Antibiotikaresistenzen – krankmachende Keime enthalten. Und ja, richtig, viele Fleischprodukte sind durch multiresistente Erreger kontaminiert, die einen nicht unbedingt krankmachen müssen. Sie führen aber dazu, dass man durch den Verzehr multiresistente Erreger in sich oder auf sich trägt.
Viele Fleischprodukte sind durch multiresistente Erreger kontaminiert.
Es wäre also besser, Tierhaltung zu minimieren?
Nun ja, zunächst einmal muss man nicht die Tierhaltung selbst minimieren, sondern man muss die Bedingungen der Tierhaltung so gestalten, dass sie artgerecht erfolgt und Antibiotika nicht zum Zwecke der Mast, also der rascheren Gewichtszunahme eingesetzt werden. Es ist lange bekannt, dass das ein großes Problem hinsichtlich Resistenzentwicklung ist. Es hat viele Versuche und Ansätze gegeben, Antibiotika in der Tiermast reduzieren. Vor einiger Zeit trat die EU-Tierarzneimittelversorgung in Kraft. Aber statt einer angestrebten Reduktion des Antibiotikaverbrauchs um 50 Prozent bis 2030 deuten Prognosen derzeit eher auf einen Anstieg hin. Deutschland gehört dabei zu den Höchstverbrauchern der EU. Und natürlich muss man auch dazu sagen: wenn wir extrem billiges Fleisch kaufen wollen, dann werden auch die Produktionsbedingungen so bleiben wie sie sind.
Statt einer angestrebten Reduktion des Antibiotikaverbrauchs um 50 Prozent bis 2030 deuten Prognosen derzeit eher auf einen Anstieg hin. Deutschland gehört dabei zu den Höchstverbrauchern der EU.
Ist das für Sie nicht frustrierend zu sehen, dass es hier nicht vorwärts geht?
Das Thema begleitet mich, seit ich meinen Beruf begonnen habe. Ja, es ist manchmal auch ein bisschen frustrierend. Auf der anderen Seite gehört es zu unserer Aufgabe, hier Einfluss zu nehmen, zu beraten und Empfehlungen zu geben. Wir als Mediziner können natürlich vor allem die medizinischen Aspekte beeinflussen. Dazu gehört, die Verschreibungspraxis von Antibiotika vernünftig zu gestalten. In einer großen aktuellen US-amerikanischen Querschnittsuntersuchung an fast einer halben Million Kindern und Jugendlichen, wurde festgestellt, dass über die Hälfte der Antibiotika nicht richtig, also nicht entsprechend den fachlichen Empfehlungen eingesetzt wurden.
Doch das war in den USA.
Auch in Deutschland variiert das Verschreibungsverhalten der Ärzte je nach Region um fast den Faktor zehn, in manchen Land- bzw. Stadtkreisen werden zehnmal mehr Antibiotika verordnet als in anderen. Jeder Laie wird unmittelbar verstehen, dass es ja nicht sein kann, dass in dem einem Landkreis zehnmal mehr Infektionskrankheiten vorkommen, die mit Antibiotika behandelt werden müssen, als im benachbarten Landkreis. Ja, es ist manchmal etwas frustrierend, seit mehr als 30 Jahren in Fortbildungen aufzuklären, bewusster mit Antibiotika umzugehen, um dann zu sehen, dass es nicht gelungen ist, genau solche Erscheinungen zu verändern.
Ja, es ist manchmal etwas frustrierend, seit mehr als 30 Jahren in Fortbildungen aufzuklären, bewusster mit Antibiotika umzugehen, um dann zu sehen, dass es nicht gelungen ist, genau solche Erscheinungen zu verändern.
Insgesamt zeigt sich aber dennoch, dass ein Umdenken begonnen hat und tendenziell weniger Antibiotika verschrieben werden, gerade unter Kinderärzten. Aber der entscheidende Durchbruch ist noch nicht gelungen. Länder wie die Niederlande, die Schweiz oder die skandinavischen Länder verordnen deutlich weniger Antibiotika, ohne dass die Menschen dort gefährdeter wären oder früher sterben würden. Und trotzdem, die gute Nachricht ist auch, dass wir Antibiotikaresistenzen aufhalten können, wenn wir weniger Antibiotika verabreichen.
Die Leopoldina – die Nationale Akademie der Wissenschaften – hat vorgeschlagen, Pharmaunternehmen mit Geld zur Entwicklung neuer Antibiotika zu motivieren. Was halten Sie davon?
Es ist richtig, Impulse zu setzen, um neue Antibiotika zu entwickeln. Auch hier muss man wissen, dass es neue Stoffklassen von Antibiotika, also solche mit einem neuen Wirkmechanismus, seit den 1980er Jahren nicht mehr gegeben hat. Doch es dürfte schwer werden, die Unternehmen zu überzeugen. Der Antibiotika-Markt ist viel kleiner und weniger lukrativ als etwa der Markt für Krebs- und Rheumamedikamente. Infektionen behandeln Sie für 14 Tage, dann ist der Behandlungszyklus vorbei, und nicht ein ganzes Leben oder lange Zeiträume wie bei Rheuma oder Krebs. Das ist wenig attraktiv für die Pharmaunternehmen. Insofern ist ein solcher Vorstoß wie der der Leopoldina wichtig, aber es ist auch nur einer von vielen Teilen zur Lösung. Anreize für die pharmazeutische Industrie zu schaffen, ist eine Frage, die politisch gelöst werden muss.
Der Antibiotika-Markt ist viel kleiner und weniger lukrativ als etwa der Markt für Krebs- und Rheumamedikamente.
Sie meinten in Südostasien und Südamerika gebe es sehr viele Resistenzen. Warum?
In Ländern wie Indien oder Brasilien finden Sie große Produktionsstätten für Medikamente. Die Vorschriften dort sind aber andere als bei uns. Dort gelangen die produzierten Antibiotika auch in die Umwelt, die die Produktionsstätten umgibt und somit in den Kreislauf der Natur. Man hat in Wasserproben Antibiotikarückstände gemessen. Die Antibiotika-Konzentrationen übersteigen die erlaubten Grenzwerte um sage und schreibe 1,5 Millionen Prozent oder mehr. Wenn Sie diese Daten sehen, wird Ihnen schlecht. Antibiotika werden oft in Ländern mit niedrigeren Umweltauflagen produziert.
Die Antibiotika-Konzentrationen übersteigen die erlaubten Grenzwerte um sage und schreibe 1,5 Millionen Prozent oder mehr. Wenn Sie diese Daten sehen, wird Ihnen schlecht.
Wir wären also gut beraten, die Produktion wieder nach Europa zu holen, wo wir sie strenger kontrollieren können. Denn was wir hier exemplarisch sehen, ist auch, dass uns am Ende die Probleme irgendwann wieder einholen, wenn die resistenten Erreger bei uns landen. Die Produktion bei uns hätte den weiteren Vorteil, dass wir weniger abhängig wären. Immer wieder haben wir in den letzten Jahren – während, aber auch nach der Pandemie – erlebt, dass bestimmte Antibiotika nicht verfügbar waren.
Was kann jeder individuell gegen Resistenzen tun?
Persönlich kann jeder versuchen, bei banalen Infektionskrankheiten wie Erkältungen mit Schnupfen, Halsschmerzen, Husten eine Behandlung mit Antibiotika nicht zu erwarten oder einzufordern, sondern Verordnungen gemeinsam mit dem Arzt zu besprechen und zu hinterfragen. Antibiotika können lebenswichtig und natürlich kann die Entscheidung für Antibiotika richtig und notwendig sein, aber es ist sie eben nicht in jedem Fall. Und vielleicht kann man auch dadurch einen kleinen Beitrag leisten, in dem wir weniger, aber dafür vielleicht Fleisch aus artgerechter Tierhaltung zu essen.
Links/Studien
- Naghavi, Mohsen et al. Global burden of bacterial antimicrobial resistance 1990–2021: a systematic analysis with forecasts to 2050N.The Lancet, Volume 404, Issue 10459, 1199 - 1226. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(24)01867-1
- Munk, P., Brinch, C., Møller, F.D. et al. Genomic analysis of sewage from 101 countries reveals global landscape of antimicrobial resistance. Nat Commun 13, 7251 (2022). https://doi.org/10.1038/s41467-022-34312-7
- Antibiotikaresistenzen: Leopoldina Policy Brief empfiehlt wirtschaftliche Anreize für Entwicklung neuer Medikamente
(tomi)
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR um 4 | 21. Februar 2025 | 16:00 Uhr
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