ErnährungRohmilch-Trend: Warum das unbehandelte "Weiße Gold" immer noch keine gute Idee ist
Seit Monaten wird in Sozialen Netzwerken die Pasteurisierung verteufelt und unbehandelte Rohmilch als Superfood gehandelt. Grund dafür ist eine fragliche Auffassung von Natürlichkeit. Fachleute schütteln den Kopf und sagen, dass man das besser bleiben lassen sollte. Gesundheitlich gibt es praktisch nur Nachteile.
Dieses Ansinnen um die Natürlichkeit, nun, das ist ein freilich dehnbares. Auf dem Landgut Nemt in der Nähe von Wurzen geht das so: Alles bio, alles regional und alles aus einem Rutsch. Die Kühe liefern hier nicht nur Milch, sondern dieselbe wird nebenan auch gleich ins Tetrapak gefüllt oder zu Joghurt und Käse weiterverarbeitet. Nur Milch direkt aus dem Euter gibt’s hier nicht zu kaufen. Lebensmitteltechniker und Geschäftsführer Karsten Döbelt sieht da auch keinen Grund: "Es war eigentlich nie unser Ansinnen in dem Bereich der Rohmilch aktiv zu werden."
Milch vom Landgut Nemt ist pasteurisiert, also kurzzeitig moderat erhitzt – nicht zu verwechseln mit der ultrahohen Erhitzung, wie sie zur Herstellung von H-Milch notwendig ist. Die Pasteurisierung hat der Chemiker Louis Pasteur bereits Mitte des 19. Jahrhundert entwickelt. Nicht-pasteurisierte Rohmilch ab Hof gibt es etwa an sogenannten Milchtankstellen oder als Vorzugsmilch auch im Laden – mit einer Haltbarkeit von höchstens 96 Stunden. Landwirtinnen und -wirte liefern damit nicht nur einen Rohstoff, sondern ein Lebensmittel. Aus Perspektive der Direktvermarktung ist das bei Betrieben ohne Hofmolkerei durchaus nachvollziehbar, aber die gesetzlichen Auflagen sind entsprechend hoch und der Hinweis, dass das Ganze nicht für den rohen Verzehr vorgesehen ist, obligatorisch. Für Karsten Döbelt ist Rohmilch kein Thema, außerdem sei kaum Nachfrage da: "Wir kriegen vielleicht drei, vier Anfragen im Jahr."
Von wegen Hafermilch: Rohmilch in Sozialen Netzwerken
Ein anderes Bild zeichnet sich in den sozialen Netzwerken, wo nicht Kokos-, Mandel- und Hafermilch, sondern Rohmilch als ganz natürliches Superfood angepriesen wird und der Kurkuma-Latte auch mal direkt unterm Euter entsteht. In den Vereinigten Staaten hat die Rohmilch-Bewegung mit dem neuen Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. sogar eine eigene Galionsfigur, die sich nicht nur als Impfgegner und Verschwörungstheoretiker positioniert, sondern ausschließlich unbehandelte Milch trinkt und propagiert – und dabei die für einen Gesundheitsminister nicht ganz unerhebliche Warnung ignoriert, dass dadurch auch das Vogelgrippevirus auf den Menschen übertragen werden kann. Was einst ein Kulturkampf zwischen "Milch braucht kein Mensch" und "Milch ist wichtig und gesund" war, ist mittlerweile also ein Streit um die korrekte Darreichungsform.
Rohmilch enthält ein Sammelsurium an Mikroorganismen
Prof. Dr. Thomas Henle | TU Dresden
Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Aufs Pasteurisieren zu verzichten, ist aus wissenschaftlicher Sicht schlichtweg Unfug, sagt Lebensmittelchemiker Thomas Henle von der TU Dresden. Das Argument, durch die Erhitzung würden je nach Temperatur mindestens zehn Prozent der enthaltenen Vitamine verloren gehen, kann er zudem schnell entkräften: "Milch ist keine besonders wichtige Quelle für B-Vitamine oder für das Vitamin C, sodass diese Verluste für die Ernährung völlig irrelevant sind. Diese Vitamine nimmt man besser mit Obst oder mit Gemüse auf."
Kleines Milch-ABC:
Rohmilch
direkt aus dem Euter, Verkauf ab Hof, sollte vor Verzehr erhitzt werden
Vorzugsmilch
Verkehrsbezeichnung für Rohmilch im Laden, hohe regulatorische Auflagen, bis 96 Stunden haltbar, sollte vor Verzehr erhitzt werden
Pasteurisierte Frischmilch – "traditionell hergestellt"
nicht-haltbar gemachte Milch, die kurzzeitig auf über 72 Grad erhitzt wurde, gekühlt einige Tage haltbar
ESL-Milch – "länger haltbar"
höher erhitzt als traditionell hergestellte Milch, etwa hochpasteurisiert drei Sekunden bei 127 Grad, etwas geringerer Vitamingehalt als pasteurisierte Milch, ungeöffnet und gekühlt wenige Wochen haltbar
H-Milch
für wenige Sekunden auf bis zu 150 Grad erhitzt, durch Erhitzung und Lagerung geringerer Vitamingehalt als ESL-Milch, ungeöffnet monatelang ungekühlt haltbar, veränderter Geschmack im Vergleich zu Firschmilch
Homogenisierte Milch
industrielle Zerkleinerung der Fettkügelchen in der Milch, verhindert das Aufrahmen der Milch, verändert den Geschmack und die Beschaffenheit im Vergleich zu nicht-homogenisierter Frischmilch
Pflanzliche Milch
umgangssprachliche Bezeichnung für pflanzliche Milchalternativen wie Hafer-, Mandel-, Kokos-, Soja-, Reis- oder Erbsenmilch.
Wichtige Milchnährstoffe sind eher das Vitamin D und Calcium. Nur werden die durch das leichte Erhitzen gar nicht beeinflusst. Statt gesundheitliche Vorteile mitzubringen, erhöhe der Konsum von Rohmilch das Risiko für Infektionskrankheiten, erklärt Thomas Henle. Und zwar auch bei vorbildlicher Stallhygiene: "Rohmilch enthält ein Sammelsurium an Mikroorganismen. Die können aus dem Euter stammen, die können von der Haut der Kuh stammen, die können von den Fäkalien der Kuh stammen."
So sind etwa Salmonellen, Campylobacter und E.coli in der Lage, schwere Durchfallerkrankungen auszulösen, mitunter sogar blutige bis hin zu tödlichen Erkrankungen. Für ungeborene Kinder sind vor allem Listerien lebensgefährlich. In der Schwangerschaft ist Rohmilch deshalb tabu – und für Kinder und immungeschwächte Menschen ebenfalls mit einem hohen Gesundheitsrisiko verbunden. Berichte im Internet verweisen in diesem Zusammenhang gern auf die anekdotische Erfahrung, dass man noch nie einen gesundheitlichen Schaden durch das Trinken von Rohmilch festgestellt hätte und Studienergebnisse zeigen würden, dass mit Rohmilch versorgte Landkinder weniger Allergien als Stadtkinder hätten.
So schonend, wie wir das hinkriegen, kriegt das die Privatperson zu Hause in der Küche nicht hin
Karsten Döbelt | Lebensmitteltechniker, über das Abkochen von Milch
Für Thomas Henle nichts Neues: "Wenn überhaupt, dann zeigen diese Studien Korrelationen und keine Kausalitäten. Das heißt, mit anderen Worten, diese Studien beweisen definitiv nicht, dass Rohmilch der Grund ist für ein möglicherweise verringertes Allergierisiko bei Landkindern." So gebe es in diesem speziellen Fall noch viele andere mögliche Erklärungsansätze, "bis hin zu der vermutlich einfach größeren Aktivität und der gesünderen Lebensweise bei Landkindern. Die sind halt einfach mehr in der frischen Luft als die sehr behüteten Stadtkinder." Aus den Studienergebnissen eine Ernährungsempfehlung abzuleiten, sei seiner Auffassung nach vollkommen vermessen: "Vor allen Dingen, wenn man daraus dann vielleicht folgert, dass man mit seinen Stadtkindern einmal in der Woche auf den Bauernhof fährt, die Kinder dann zwei Stunden im Stall spielen lässt und dann der Meinung ist, wenn sie dann zusätzlich Rohmilch trinken, dass sie dann für das Immunsystem was Gutes tun."
Kein Beweis für weniger Allergien – Rohmilch immer erhitzen
Ob nun behütetes Stadtkind oder Erwachsener vom Lande: Prinzipiell sollten sowieso alle Menschen Rohmilch nur erhitzt verzehren – so, wie es an jeder Milchtankstelle dransteht. Doch das ist genau der Knackpunkt, sagt Karsten Döbelt vom Landgut Nemt: "So schonend, wie wir das hinkriegen, kriegt das die Privatperson zu Hause in der Küche nicht hin. Da sind wir dann ganz schnell bei anderen Temperaturen."
Um den natürlichen Charakter zu erhalten, wird in Döbelts Betrieb im Übrigen weder homogenisiert noch ultrahocherhitzt, sondern eben ein reines Naturprodukt verkauft, nur eben ohne potenziell krank machende Bakterien. Und wem das an Natürlichkeit noch nicht reicht: Das Allernatürlichste ist es dann wahrscheinlich, nach der Muttermilch mit dem Milchkonsum Schluss zu machen.
Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | 24. März 2025 | 10:52 Uhr
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