GesundheitssystemZu viel Behandlung und Kommerz, zu wenig Prävention: Studie attestiert ineffizientes Gesundheitssystem
Deutschland investiert Milliarden in sein Gesundheitssystem, doch die Gesundheit der deutschen Bevölkerung ab 16 Jahren liegt unter dem EU-Durchschnitt. Wie kann das sein? Vernachlässigung von Prävention und Gesundheitsförderung, stattdessen milliardenteure hochspezialisierte Behandlungen und eine große Lobby, die wirksame Gesundheitspolitik verhindert – das ist das ernüchternde Ergebnis einer aktuellen Analyse des Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS).
Deutschland gehört zu den wirtschaftsstärksten Nationen der Welt. Das Sozialsystem ist gut ausgebaut, die Gesundheitsausgaben pro Kopf sind die dritthöchsten innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Trotzdem sind die Menschen weniger gesund als in vielen anderen europäischen Staaten. Die Menschen sind kränker und sterben früher. Jungen in Sachsen-Anhalt haben bundesweit derzeit niedrigste Lebenserwartung. Bei Frauen liegt das Bundesland nur knapp vor dem Saarland auf dem vorletzten Platz. Auch Thüringen schafft es in der deutschlandweiten Auswertung nur auf Platz 13. Sachsen dagegen liegt hinter Baden-Württemberg auf Platz 2 – im Durchschnitt und weil die Frauen länger leben. Denn bei den Männern ist auch Sachsen nur auf Platz 10. (Hier die letzten Zahlen vom Sommer 2024)
Wie kann das sein? Diese Fragen haben sich Forschende des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) gestellt. Ihr Ergebnis ist ernüchternd: Zu viele milliardenteure hochspezialisierte Behandlungen, viel zu wenig Prävention sowie Gesundheitsfürsorge und wirtschaftliche Interessen, die eine wirksame Gesundheitspolitik verhindern.
Keine Strategie für öffentliche Gesundheit
"Der Schwerpunkt des derzeitigen Systems auf kurativer Versorgung und individualisierter Medizin hat zu einer Vernachlässigung von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung geführt", schreiben die Forschenden in ihrer Analyse. Es gebe keine Strategie für eine öffentliche Gesundheit. "Die starken wirtschaftlichen Interessen des Landes und die mächtigen Lobbys haben die Umsetzung einer wirksamen Gesundheitspolitik behindert." Zudem führe ein Flickenteppich aus Zuständigkeiten aus Bund, Ländern und Kommunen zu schlechter Abstimmung und ineffizienter Mittelverteilung. Die Übersichtsarbeit ist in der Fachzeitschrift "Lancet Public Health“ erschienenen. "Deutschland hat ein strukturelles Problem in der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Statt Krankheiten zu verhindern, konzentriert sich das System zu sehr auf deren Behandlung – und das mit zum Teil ineffizienten Strukturen“, sagte Studienleiter Professor Hajo Zeeb vom BIPS.
Ein System, das Krankheiten verwaltet, statt sie zu verhindern.
Studienleiter Professor Hajo Zeeb | Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS)
Wie krank ist Deutschland?
Doch wie krank oder gesund ist Deutschland? Die Deutschen haben nach wie vor eine niedrige Gesamtlebenserwartung, erklären die Autoren. Das sei in erster Linie auf eine erhöhte kardiovaskuläre Sterblichkeit zurückzuführen – also auf tödliche Herz-Kreislauferkrankungen. In Deutschland gehören Herz-Kreislauf-Erkrankungen seit Jahren zur Todesursache Nummer eins. Dazu zählen Bluthochdruck (Hypertonie), Arteriosklerose (Verhärtung und Verengung der Blutgefäße), die koronare Herzkrankheit (Verengung der Herzkranzgefäße) sowie Herzrhythmusstörungen, Herzinsuffizienz (Herzschwäche), Herzmuskelentzündungen (Myokarditis): Entzündungen des Herzmuskels und Vorhofflimmern.
Bei Alkohol, Zucker und Zigaretten stehen die Deutschen in der EU mit an der Spitze
Den Autoren zufolge treiben in Deutschland besonders ein erhöhter Blutdruck und Blutzuckerspiegel, Rauchen, Übergewicht sowie eine ungesunde Ernährung und vor allem übermäßiger Alkoholkonsum, die Sterblichkeitsraten nach oben. Besonders bei Alkohol, Zucker und Zigaretten stehen die Deutschen europaweit mit an der Spitze. "Die gesundheitliche Ungleichheit hat in den letzten zehn bis 15 Jahren zugenommen und wurde durch die Covid-19-Pandemie noch verschärft. Das deutet auf Defizite im Gesundheitswesen hin“, schreiben die Forschenden. Besonders immer mehr Kinder litten unter Übergewicht und Adipositas. Insgesamt liege der Gesundheitszustand der Deutschen ab 16 Jahren sogar unter dem EU-Durchschnitt.
Wo liegen die Hauptprobleme?
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen drei Hauptprobleme:
• Fehlende zentrale Steuerung: Deutschland hat keine starke Institution, die Public-Health-Maßnahmen koordiniert. Stattdessen herrscht ein Flickenteppich aus Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen, der zu schlechter Abstimmung und ineffizienter Mittelverteilung führt.
• Zu wenig Prävention, zu viel Reparaturmedizin: Die Krankenkassen investieren Milliarden in hochspezialisierte Behandlungen, während die Finanzierung von Prävention und Gesundheitsförderung ein Nischendasein fristet.
• Lobbys verhindern wirksame Maßnahmen: Zuckersteuer? Werbeverbote für ungesunde Lebensmittel? Regulierungen für Tabak und Alkohol? In Deutschland sind diese Maßnahmen entweder abgeschwächt oder nie umgesetzt worden – oft unter dem Einfluss wirtschaftlicher Interessen.
"Die Folge ist ein Gesundheitssystem, das zwar enorm teuer ist, aber zu wenig für die langfristige Gesundheit der Bevölkerung tut“, sagt Erstautor Zeeb. Zudem hätten föderalen Strukturen in der öffentlichen Gesundheitsversorgung auch Nachteile. "Zu oft werden Gesundheitsdaten unkoordiniert erhoben und sind nicht ausreichend miteinander verbindbar – ein Problem, das sich während der Covid-19-Pandemie besonders deutlich zeigte“, erklärte Ko-Autor Ansgar Gerhardus, Professor für Öffentliche Gesundheit an der Universität Bremen. "Während andere Länder klare Strategien für Public Health entwickelt haben, fehlt eine solche in Deutschland“.
Zu oft werden Gesundheitsdaten unkoordiniert erhoben und sind nicht ausreichend miteinander verbindbar – ein Problem, das sich während der Covid-19-Pandemie besonders deutlich zeigt.
Ko-Autor Professor Ansgar Gerhardus | Universität Bremen
Lösungsvorschläge: Mehr Mut zu Public Health
Die Autorinnen und Autoren der Arbeit schlagen vor, eine Strategie für die öffentliche Gesundheit zu erarbeiten (Public-Health-Strategie), die Gesundheitsförderung und Prävention in den Mittelpunkt stellt. Gesundheitsförderung müsse als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen werden, auch Bildung, Arbeit und Umweltpolitik solle auf Gesundheitsvorsorge ausgerichtet werden. Medizin, Forschung und öffentliche Gesundheit gehörten besser verzahnt.
Kommerzielle Interessen müssen reguliert werden
Die Politik muss sich trauen, gesundheitsschädliche wirtschaftliche Interessen stärker zurückzudrängen.
Studienleiter Professor Hajo Zeeb | Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS)
Die Forschenden fordern außerdem: Kommerzielle Interessen müssen reguliert werden. "Die Politik muss sich trauen, gesundheitsschädliche wirtschaftliche Interessen stärker zurückzudrängen“, sagte Studienleiter Zeeb. "Deutschland kann sich sein aktuelles System auf Dauer nicht leisten – weder gesundheitspolitisch noch wirtschaftlich. Wir brauchen eine Neuausrichtung hin zu mehr Prävention, wenn wir nicht weiter in der Kostenspirale gefangen bleiben wollen.“ Weil die Kosten im Gesundheitssystem seit Jahren steigen, sei es Zeit umzudenken. "Deutschland hat die Mittel, um ein gesünderes und effizienteres System aufzubauen – doch es fehlt bislang der politische Wille, notwendige Reformen anzugehen."
Links/Studien
Die Studie im Original: Zeeb H, Loss J, Starke D, Altgeld T, Moebus S, Geffert K, Gerhardus A. Public health in Germany: Structures, dynamics and ways ahead health policy. The Lancet Public Health. 2025. https://doi.org/10.1016/S2468-2667(25)00033-7
(pm/tomi)
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 21. Februar 2025 | 19:00 Uhr
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