ARD-Themenwoche "Wir gesucht" Als Mutti in den Westen ging: Die verlassenen Kinder
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24. Mai 2024, 12:45 Uhr
November 1989. Die Grenzen sind offen, die Freiheit ruft. Doch es gibt Mütter und Väter, die lassen ihre Kinder einfach zurück und bauen sich ohne sie ein neues Leben auf. Ein Schicksal, das in dem Jahr zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung wohl hunderte Kinder erleiden. Wie viele genau auf diese Weise ihre Familien verloren haben, kann heute keiner mehr ermitteln. Einige Kinder wurden von ihren Eltern im Heim abgegeben, andere einfach in der Wohnung zurückgelassen.
Inhalt des Artikels:
Das Kinderheim Makarenko in Berlin-Treptow ist wenige Wochen nach dem Mauerfall eine Auffangstation für Kinder, deren Eltern ihr Glück im Westen suchen. Zum Beispiel die von Mark. Die Mutter des Zweijährigen ist mit den drei Geschwistern fort. Für Mark war kein Platz mehr. Allein in Berlin sind es Anfang Dezember schon mehr als fünfzig solcher zurückgelassener Kinder. Sie feiern den ersten Advent im Heim.
Ab in den Westen: "Mutti ist im Urlaub"
Neben Mark gibt es auch Steffen, ein Jahr alt, der hier zusammen mit seiner zweijährigen Schwester untergekommen ist. Die Heimleitung berichtet damals dem DDR-Fernsehen: "Wir sind durch die Großmutter des Kindes informiert worden, dass die Mutter ausgereist ist ohne ihre Kinder. Es ist noch ein Geschwisterkind bei uns. Und sie hat sich bisher auch aus der Bundesrepublik nicht gemeldet."
In der ganzen DDR werden in dieser Zeit Kinder verlassen. Thomas wird in Erfurt abgegeben. Die Mutter beauftragte ihren Freund, den Jungen ins Heim zu bringen. Der setzt ihn der Heimleitung einfach auf den Schreibtisch. Dann ziehen beide in den Westen. Seit Wochen wartet der Fünfjährige nun auf seine Mutti. Seine Erklärung für ihr Verschwinden: "Meine Mutti, die ist im Urlaub."
Unterbringung im Heim: "Man wurde quasi abgeschoben"
31 Jahre später sieht Thomas Metz sich die Fernsehaufzeichnungen von früher mit seiner heutigen Familie an.
Das fühlt sich heute noch total emotional an. Gerade, wenn man sich so als kleiner Junge hilflos die Treppen hochlaufen sieht und dann so eine Aussage trifft: Meine Mama ist im Urlaub. Und man weiß aus jetziger Sicht: So war es eben gar nicht. Man wurde quasi abgeschoben. Und das ist verblüffend zu sehen, wie schnell man das als Kind in so einer Notsituation auch glauben kann.
Heute ist Thomas verheiratet und selbst Vater von zwei Töchtern. Sein Glück war, dass er nach Monaten im Heim von einer Pflegemutter aufgenommen wurde. Ob er damals verstanden hat, dass seine Mutter ihn nicht mehr abholen wird? "Nein, das ist gar nicht mehr in Erinnerung. Ich habe die Dramatik das erste Mal realisiert, als ich mich eben im Film selber gesehen habe, und die Worte gehört habe: Meine Mama, ja, die ist im Urlaub. Erst da habe ich realisiert, was eigentlich los war."
Verlassene Kinder: Genaue Zahlen sind unbekannt
In den Jahren nach dem Fall der Berliner Mauer bis zur Wiedervereinigung Deutschlands waren hunderte Kinder allein und oft auch völlig unversorgt in Ostdeutschland zurückgelassen worden. Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Doch weder Mark, noch Steffen, noch Thomas sind Einzelfälle.
Am vierzehnten November, gerade fünf Tage nach Öffnung der Grenzen, werden von der Volkspolizei drei Jungen im Alter von drei, fünf und acht Jahren allein in einer Wohnung in Berlin gefunden. Der Jüngste ist Martin. Seit er im Heim lebt, ist er still geworden. Er leidet am meisten unter der Trennung von der Mutter. Wie lange die Kinder allein waren, kann nicht mehr festgestellt werden. Irgendwann machten die Brüder auf sich aufmerksam, weil sie Hunger hatten. Der achtjährige Mark fühlt sich für die Geschwister verantwortlich.
Mutti ist Sonnabend halb zwölf losgegangen, und hat uns dann noch einen Zettel geschrieben. Und da stand drauf, wo die Sachen liegen und dass sie uns was mitbringt. Sie hat uns noch ein bisschen Frühstück auf den Schrank gelegt. Das waren aber nur acht Stullen. Die haben wir alle gegessen.
"Ich bitte dringend, eine Lösung zu finden"
Schon damals richtet sich Kristina Brandt, Leiterin des Erfurter Säuglingsheimes, in einem Appell an Politik und Medien.
Ich bitte deswegen dringend einmal unsere beiden Staaten, gegenseitig aufeinander zuzugehen, um mit den örtlichen Organen der Jugendhilfe ein Rechtshilfeabkommen abzuschließen, um für diese Kinder eine Lösung zu finden.
Kristina Brandt erinnert sich: Die zurückgelassenen Kinder füllen auch ihre Einrichtung innerhalb weniger Wochen. Hier waren es allein zwölf Kinder, die abgegeben wurden. "Ich war fassungslos. Und meine ganzen Kollegen auch. Man hat sowas nicht für möglich gehalten. Es müssen Hunderte gewesen sein im ganzen DDR-Gebiet. Es sind ja auch in Erfurt andere Heime gewesen, mit denen wir kooperiert haben. Da waren ja schon Schulkinder dabei, die dort abgegeben wurden, wo versprochen wurde: Nächste Woche hole ich dich. Auch Jugendliche. Nichts ist passiert."
Geteilte Familie: Der Bruder durfte mit
Ein besonders schweres Schicksal erleidet Andreas. Auch er wird in einem Erfurter Heim abgegeben. Seine Mutter, die ihn bereits als Baby adoptierte, ging nach Niedersachsen. Seinen Bruder nahm sie mit. Für den Zwölfjährigen aber war in ihrem Leben offenbar kein Platz mehr. "Ich bin ein halbes Jahr hier im Heim und als ich bei meinem Vater war, habe ich erfahren, dass meine Mutter in den Westen gefahren ist mit meinem Bruder. Erst habe ich das nicht geglaubt. Und dann habe ich erst gesehen, dass meine Mutter mir ein Paket geschickt hat und da sah ich die Adresse." Er versucht, sich den Fortgang der Mutter zu erklären.
Ich habe darüber nachgedacht, warum meine Mutter mich alleine gelassen hat. Da überlege ich jeden Tag immer noch, und ich weiß nicht, ob es das Richtige ist.
"Ich hole dich nicht ab"
Andreas' Mutter kann gefunden werden, in einem Dorf bei Celle. Die Frau wohnt zur Untermiete, ist arbeitslos. Die Reporter wollen damals wissen, was sie bewogen hat, diesen Schritt zu gehen. Als sie der Frau den Hilferuf des Jungen zeigen, sagt sie kalt:
Ja, Andreas, das mache ich aber nicht. Ich hole dich nicht ab. Du weißt auch ganz bestimmt warum. Du wolltest mich ja nicht mehr sehen. Du hast ja zu mir gesagt: Dich will ich nicht sehen in Erfurt. Du brauchst mich überhaupt nicht zu besuchen. Das war ein großes Problem mit Andreas, was schon im Kindergarten anfing. Da wurde mir schon gesagt, dass er bockig ist. In der Schule wurde es nachher viel schlimmer. Da hat er seine Hausaufgaben nicht gemacht und meinte, ich hätte ihm nichts zu sagen.
Der Bruder, der während dieses Interviews neben der Mutter sitzt, kann seine Tränen nicht zurückhalten. Ihm fehlt Andreas. Andreas wird nie wieder bei seiner Mutter und dem kleinen Bruder leben.
Pflegemama: Die goldene Karte
Auch Thomas Metz aus Erfurt nicht. Aber er bekam mit seiner Pflegemutter eine neue Mutter. "Letztendlich ist meine Mutter die goldene Karte in meinem Leben gewesen. Wär meine Mutter nicht dagewesen und hätte mir Gott diese Karte nicht geschenkt, dann wäre ich heute nicht so, wie ich bin." Das Fotoalbum von Thomas‘ Kindheit beginnt, als er fünf Jahre alt ist. Es zeigt eine glückliche Kindheit. Voll Liebe und Geborgenheit. Seine Pflegemutter hat alles dafür getan. Und Thomas nutzte die Chance. Er studierte und wurde Suchttherapeut. Heute hilft er anderen, ihren Weg zurück ins Leben zu finden.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Als Mutti in den Westen ging | 10. November 2020 | 22:10 Uhr