
Dokus und Hörbuch Zwischen DDR und Wende: Fünf berührende Geschichten
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04. April 2025, 04:00 Uhr
Das Leben von vielen Jugendlichen in der DDR lässt sich mit dem von heute nicht vergleichen. Vier Dokumentationen und eine Lesung in der ARD Audiothek erzählen von großen und kleinen Umbrüchen im DDR-Alltag von Heranwachsenden. Wie man zum Beispiel in einer Mangelwirtschaft trotzdem eine Art von Hip-Hop-Lifestyle erfand. Oder wie das eigene Leben komplett aus den Angeln gehoben wurde, weil die Eltern in die BRD flüchteten. Und: Welche Sorgen und Hoffnungen junge Menschen nach dem Mauerfall umtrieben und wie sich der Rassismus in der DDR von dem im wiedervereinigten Deutschland unterschied.
Inhalt des Artikels:
- "Die Stumme Kattrin mit zwei T" – Eine Vater-Tochter-Geschichte in der DDR
- "Elbtal-Bronx: Breaken, Platten und Graffitti – Hip-Hop-History in Dresden"
- "Wir fühlten uns verloren – Schüleraufsätze über die Deutsche Einheit"
- André Kubiczeks "Nostalgia" – Ein Coming-of-Age-Roman vom Ankommen und Gehen
- "Welcome Home Dr. Marco – Identitätssuche zwischen Karl-Marx-Stadt und Kenia"
"Die Stumme Kattrin mit zwei T" – Eine Vater-Tochter-Geschichte in der DDR
Die "stumme Kattrin mit zwei T" hat ihren Namen nach dem Stück "Mutter Courage und ihre Kinder" von Bertolt Brecht. Darin heißt es: "Sei froh, dass du stumm bist, da widersprichst du dir nie oder willst dir nie die Zunge abbeißen, weil du die Wahrheit gesagt hast." Ihr Vater ist der erfolgreiche Theaterregisseur Peter Kupke, der am Berliner Ensemble die Stücke von Brecht inszenierte. Immer wieder durfte Kupke auch auf den Bühnen der BRD arbeiten. Immer wieder kam er zurück. Doch sein Stern begann zu sinken, als er nicht mehr "auf Parteilinie inszenierte".
Schließlich kehrten ihre Eltern nach einem Arbeitsaufenthalt in Dänemark einfach nicht mehr zurück in die DDR. Für Kattrin Kupke bedeutete die Flucht der Eltern das sofortige Ende ihrer Ausbildung zur Schauspielerin. Ihr bisheriges Leben war mit einem Schlag vorbei. Sie stand unter Beobachtung der Stasi, sie revoltierte. Durch den Schock verlor Kattrin tatsächlich für eine Weile ihre Stimme. Fast 50 Jahre später erinnert sie sich an diese Zeit. Das Feature erzählt auch eindrucksvoll davon, wie sich die Diktatur bis heute auf die Menschen auswirkt.
"Elbtal-Bronx: Breaken, Platten und Graffitti – Hip-Hop-History in Dresden"
Das Feature ist eine persönliche Reise des Autors in die Heimat seiner Jugend: Dresden. Dort besucht er Andy K., der 1984 noch ein Elektrotechnik-Lehrling war. Als damals der Film "Beat Street" mit Harry Belafonte in den Kinos der DDR lief, wurde auch er erfasst von der Welle der Hip-Hop-Kultur mit Graffiti, Breakdance und Rap-Musik. Beide lassen Erinnerungen aufleben, wie junge Leute damals den Film auswendig lernten, zu tanzen begannen, Musik auflegten, sich in Ermangelung selbst T-Shirts oder einfach ihre Hefter bemalten – denn Sprühdosen für Grafitti gab es nicht. Und die wären dem sozialistischen Staat sicher ein Dorn im Auge gewesen.
Andy K. erzählt, dass die Jugendlichen durch den Film eigentlich lernen sollten: Wie schlecht es den Menschen im kapitalistischen New York geht: "Aber für uns war es andersrum!" Im Film sahen sie, wie ihre Träume anderswo schon Realität waren. Trotzdem standen sie damals auf der Bühne der "Jungen Garde" im Dresdner Großen Garten und performten Breakdance – oder zumindest das, was sich die Jugendlichen damals unter diesem Begriff vorstellten.
"Wir fühlten uns verloren – Schüleraufsätze über die Deutsche Einheit"
1990 befanden sich Jugendliche auch in einer Art "Zeitenwende". Für die Noch-DDR-Schüler kam das ganze Leben ins Schwanken, ihre Altersgenossen im Westen dagegen glaubten, für sie würde sich durch die Deutsche Einheit nichts ändern. Erstaunlich, wie reflektiert manche junge Menschen damals über eine Welt nachgedacht haben, die noch gar nicht zu fassen war. Das gibt es schwarz auf weiß. Denn im Rahmen der ersten gemeinsamen Ost-West-Studie von 1990 wurden außerdem 1.600 Kinder und Jugendliche gebeten, einen Aufsatz mit Gedanken zu ihrer Zukunft zu schreiben. Leider nahm danach niemand mehr Notiz davon.
Diese Aufsätze lagern seitdem verpackt in 25 Pappkisten im Archiv der Bundesstiftung Aufarbeitung in Berlin. Obwohl sie anonym sind, hat die Feature-Autorin Alexa Hennings einige Verfasser*innen von damals aufgespürt! So hören wir von spannenden Lebensläufen, die sich seit dem Mauerfall ergeben haben.
André Kubiczeks "Nostalgia" – Ein Coming-of-Age-Roman vom Ankommen und Gehen
André wächst in der DDR auf und fällt aus dem "Kollektiv". Mitschüler nennen ihn "Schlitzauge", denn seine Mutter stammt aus Laos. Dazu kommt, dass sein Bruder an einer schweren Behinderung leidet, und "Spastiker" ist das beliebteste Schimpfwort an der Schule. Trotzdem ist eigentlich alles ganz schön. Wir erfahren von erster Liebe und der Leidenschaft zu Popmusik der 80er-Jahre. Doch dann erschüttern mehrere Schicksalsschläge die Familie ...
Der Roman von André Kubiczek erzählt sehr persönlich von seiner Jugend und vom Leben mit seiner binationalen Familie in den 80er-Jahren in Potsdam. Dabei entsteht ein ganz eigenes Bild vom Leben in der DDR. In erster Linie ist "Nostalgia" aber ein Buch über seine Beziehung zu seiner Mutter Teo. Sie verliebte sich während ihres Studiums 1968 in Moskau und zog mit der Heirat in die DDR – gegen den Willen ihres Vaters, der in Laos ein bekannter Politiker war.
"Welcome Home Dr. Marco – Identitätssuche zwischen Karl-Marx-Stadt und Kenia"
Marco wächst als fast einziges Schwarzes Kind in den 70er-Jahren in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) auf. Behütet in einer Familie mit Geschwistern, Vater und Mutter scheint ihm nichts zu fehlen. Wären da nicht die abwertenden Kommentare über seine Hautfarbe. Schon auf der Geburtsstation beginnt der Rassismus und zieht sich durch die gesamte Kindergarten- und Schulzeit.
Rückblickend, sagt Marco, sei der Alltagsrassismus in der DDR subtiler gewesen. Erst nach der Wende beginnt die Zeit der massiven rechten Übergriffe mit physischer Gefährdung. Heute arbeitet Marco als Arzt in Sachsen, und auch jetzt passiert es mitunter, dass sich ein Patient von ihm nicht behandeln lassen will. Weil er eine dunkle Haarfarbe hat. Und von seinen beiden Töchtern ist eine weiß und eine dunkel. Auch ihre Erfahrungen kommen zur Sprache. Eine Geschichte über die Suche nach Wurzeln, über Schwarze Menschen in der DDR und im heutigen Ostdeutschland.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 17. Dezember 2024 | 20:00 Uhr