
Dresden Wenn Erwachsene stottern: So hat die Bühne Michael Winkler geholfen
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18. April 2025, 12:00 Uhr
Menschen mit Ängsten oder anderen Einschränkungen meiden oft den Kontakt zur Öffentlichkeit. Sie ziehen sich zurück, aus Furcht von anderen nicht akzeptiert und abgelehnt zu werden. Der Dresdner Verein Muse, will diesen Menschen eine Bühne geben. Hier sollen sie sich im geschützten Rahmen ausprobieren. Auch Michael Winkler, der selbst stottert, tritt hier auf. Er erklärt, warum es wichtig ist, keine Angst vor den eigenen Problemen zu haben und sich diesen zu stellen.
- Der Dresdner Michael Winkler stellt sich seit vielen Jahren seinem Stottern und tritt auf Bühnen auf, um eigene Gedichte vorzutragen.
- Der Verein Muse in Dresden will Menschen mit Ängsten und sprachlichen Einschränkungen einen geschützten Raum geben.
- Michael Winkler will sich selbst so akzeptieren, wie er ist und gelassen mit seinem Stottern umgehen.
Die Scheinwerfer leuchten hell auf eine kleine Bühne. Rund 20 Menschen sitzen auf Klappstühlen in einem Saal im Dresdner Hechtviertel. Michael Winkler hält Zettel mit selbst verfassten Gedichten in der Hand. Für ihn heißt es in den nächsten zehn Minuten "Bühne frei!". Und: Sich den eigenen Ängsten zu stellen.
Als Grundschulkind: Ein "Horrorszenario" vor der Klasse vorzulesen
Michael Winkler stottert seit dem Grundschulalter. Er erinnere sich bis heute an sein persönliches "Horrorszenario", wie Winkler sagt - dem Vorlesen vor der Schulklasse. "Ich habe durchgezählt, um zu sehen, wann ich dran bin und habe mich vorbereitet." Doch dann: "Als ich dran war, kam ich ins Stocken. In der Klasse war Ruhe."
Seine Mitschüler hätten ihn helfen wollen, aber keiner konnte es. Hänseleien habe es nur einmal in seiner Schulzeit gegeben, erinnert sich Winkler heute. Doch das Gefühl sei immer das gleiche gewesen: Angst und Unbehagen.
Bei Sportfesten in der Schule habe es ähnliche Situationen gegeben: Er stand in der Reihe von Mitschülern und sollte seinen Namen ansagen. "Bei meinem Namen habe ich in 90 Prozent der Fälle gestottert. Das habe ich heute stellenweise noch, zum Beispiel wenn ich telefoniere." Wie kann er sich das erklären? "Das sind Dinge, die so tief im Gedächtnis eingebrannt sind - sowas schwingt weiter mit."
Worte aus Angst vermeiden wollen
Auch bei den ersten Telefonaten mit MDR SACHSEN stottert Michael Winkler hin und wieder in seinen Sätzen. Beim Treffen im Anschluss mit ihm ist das - bis auf gelegentliches kurzes Stocken und Auspusten - kaum wahrnehmbar. Für Winkler gibt es dafür eine einfache Erklärung: In der Situation, wenn er am Telefon mit einer unbekannten Person spreche, fühle er sich unsicherer. "Die Mimik und Gestik fehlt", erklärt der 49-Jährige.
Sein Stottern sei nie so schlimm gewesen, dass eine stationäre Therapie notwendig gewesen sei. Doch das sogenannte Vermeidungsverhalten sei auch bei ihm deutlich geworden. "Man dreht und verändert Worte. Man baut sich seinen Satz so, wie man denkt am wenigsten zu stottern, damit es nicht auffällt."
Man dreht und verändert Worte. Man baut sich seinen Satz so, wie man denkt am wenigsten zu stottern, damit es nicht auffällt.
Sich dem Stottern stellen
Heute kann Winkler über die Umfrage per Telefon lachen, die er bei Dresdener Kinos machte: "Weil ich wusste, dass ich beim Wort Kino mit dem K Probleme habe, habe ich gesagt, dass ich eine Umfrage zu Dresdner 'Filmspielstätten' mache." Am anderen Ende des Hörers seien große Fragezeichen aufgekommen: "Über was wollen sie eine Umfrage machen?" Bestimmte Wörter zu vermeiden, die einem schwer fallen, helfe nicht, betont Winkler "Man macht sich das Leben dadurch selbst schwer, weil immer irgendein Wort kommt, was scheinbar nicht auszusprechen geht."
Umfragen - am Telefon oder auf der Straße - gehörten für ihn dazu, sich dem Stottern zu stellen, erklärt der Dresdner. Mit einem Freund, der ebenso stotterte, habe er etwa Umfragen zu diesem Thema gemacht und bewusst freiwillig gestottert. "Ich habe da sozusagen mein Stottern gefaked", erklärt Winkler. Es gehe dabei darum, sich Situationen zu stellen, in dem man stottern könnte. Das Gegenüber könnte dabei zwar leicht irritiert reagieren, aber sonst passiere nichts Schlimmes. So könne man schließlich Ängste überwinden. Deswegen tritt er hin und wieder auf der "Bühne frei" in der Dresdner Neustadt auf, deren Scheinwerfer jeden zweiten Dienstag im Monat angeht.
Menschen mit Ängsten eine Bühne geben
Menschen wie Michael Winkler eine sichere Bühne zu geben, sei genau das Ziel des Vereins Muse Dresden, sagt Sven Döring. Der Vereinsname stehe für Mut und Selbstvertrauen, erklärt der Vereinschef. Jede und jeder könne sich - egal welches Päckchen er oder sie zu tragen hat - bei "Bühne frei" präsentieren. "Es können Texte gelesen oder musiziert, getanzt oder gezaubert werden," sagt Döring, der selbst auch stottert.
Entstanden sei das Format aus einer Selbsthilfegruppe für stotternde Menschen, erklärt er. Es sei ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen, mit Ängsten, Depressionen und sozialen Phobien, mit sprachlichen Problemen aber auch diejenigen, die sich auf einer Bühne vor Publikum in einem geschützten Raum ausprobieren wollen.
Eigene Vorhaben und Probleme angehen
Das könne die Musikstudentin sein, die ihr Diplomkonzert bei "Bühne frei" vorträgt oder auch die Rollstuhlfahrerin, die ihre Gedichte rezitieren möchte. Döring nennt ein weiteres Beispiel: "Ein junger Mann war mit seiner Psychologin hier. Er hat über seine Erkrankung gesprochen." Er habe seiner Familie verheimlicht, dass er nicht mehr arbeiten ging, weil er bereits so krank und verängstigt war. Für ihn sei es eine Aufgabe gewesen, offen sein Problem anzusprechen.
Sich selbst akzeptieren
Auch für Michael Winkler sei es wichtig, sich immer seinem Thema, dem Stottern, zu stellen. Dass er stottere sei für ihn nicht mehr entscheidend. Während seinem Auftritt trägt Winkler seine Gedichte, bis auf ein paar Haspler, flüssig vor. Man käme nicht wirklich auf die Idee, dass er stottert.
Egal, ob ich stottere oder nicht - Hauptsache, ich bekomme es heraus und komme zu dem Punkt, den ich erreichen will.
Es komme eben immer auf die Situation an, erklärt Winkler. Hier bei "Bühne frei" fühle er sich wohl. Das könne vor größerer Bühne mit vielen unbekannten Gesichtern auch anders aussehen. Für ihn sei entscheidend, sich und sein Stottern zu akzeptieren. Dazu gehöre auch die Angst, die damit einhergeht: "Die ist nicht weg und kommt immer mal wieder."
Heute sehe er sein Stottern fast schon als sein "Markenzeichen", sagt Winkler mit einem Augenzwinkern: "Dass ich Probleme habe meinen Namen auszusprechen, mit meinen 1,90 Körpergröße und mit Ende 40, mag kurios wirken. Dazu sage ich aber 'C'est la vie' - So ist das Leben."